Dienstag, 19. Dezember 2006

Aggression

Die Beitragsfähigkeit der evolutionären Psychologie

Harald A. Euler

http://209.85.129.104/search?q=cache:H2T5r7h5ZMEJ:www.uni-kassel.de/fb7/psychologie/pers/euler/RecPubs/BIEGEWPAP.DOC+m%C3%A4nnlicher+ph%C3%A4notyp&hl=de&gl=de&ct=clnk&cd=70


Zitat:
Kein Biologe versteigt sich zu der Forderung, Verhalten von Lebewesen dürfe nur auf biologische Ursachen zurückgeführt werden. Die biologische Forschung bestätigt vielmehr, dass der Phänotyp das Produkt einer lebenslangen und verwickelten Interaktion zwischen Genotyp und Umwelt ist. Soziologen hingegen akzeptieren mit großer Mehrheit Durkheims Dogma, dass soziale Phänomene nur sozial, also nur durch soziale Ursachen, erklärt werden dürfen. Was aber ist eigentlich 'nur sozial'? Sind nicht alle sozialen Phänomen zugleich biologische Phänomene, oder verschwinden die biologischen Aspekte magischerweise in der Emergenz des Sozialen? Gibt es in Primatengruppen oder bei staatenbildenden Insekten etwa noch keine sozialen Phänomene? Wieso gehört Tiersoziologie nicht zur etablierten Soziologie? Sind Erforscher von Tiersozietäten per definitionem keine Sozialwissenschaftler? Für die evolutionäre Psychologe jedenfalls, allemal beim Thema der Aggression, ist das Studium tierlichen Verhaltens erkenntnisdienlich, nach dem Motto: Studiere (auch) die Tiere, wenn Du den Menschen erforschen willst!

Wenn wir menschliches Verhalten beeinflussen wollen, müssen wir es zunächst verstehen. Wenn wir es verstehen wollen, ist es hilfreich zu wissen, zu welchem Zweck es entstanden ist, um seine maßgeblichen derzeitigen Determinanten herauszufinden und seine Zusammenhänge mit anderen Verhaltensweisen zu erkennen. Wenn wir auf dem Flohmarkt stöbern, finden wir vielleicht eine uns unbekannte Apparatur, deren Teile wir zwar sehen, die aber undurchschaubar bleibt, bis wir wissen, wozu sie konstruiert wurde. Sobald wir erkennen oder erfahren, dass es sich um einen Kirschenentsteiner handelt, verstehen wir plötzlich, dass der Metallring die Halterung für die Kirsche ist und der Kolben ein x-förmiges Messer durch die Frucht treibt. In einer plötzlichen, befriedigenden Erkenntnis machen alle Teile einen Sinn. Wir haben ein Aha-Erlebnis, sagen "Ach so!" und verstehen sogar, warum konservierte Kirschen auf der einen Seite einen kreuzförmigen Einschnitt haben (Beispiel aus Pinker 1998: 34). Solche befriedigenden Erkenntnisse der Funktionalität kann erwarten, wer menschliches Verhalten von der evolutionären Perspektive betrachtet und nach den ursprünglichen Zwecken des Verhaltens fragt. Ein umfassendes Verständnis, auch des Gewaltproblems, verlangt eine umfassende historische Betrachtung, und dazu gehört eben auch und unabdingbar die Naturgeschichte. Die Naturgeschichte gestaltet und strukturiert in starkem Maße die Lebensgeschichten von Individuen, und Individuen bringen Kultur hervor und sind Akteure der Ereignisse.

Die Umwelt, die für die Evolution der allein den Menschen auszeichnenden Eigenschaften bedeutsam war, war wohl vor allem die soziale Umwelt. Die schwierigen und immer wiederkehren Probleme waren nicht nur Wetter, Parasiten und Fressfeinde, sondern vor allem andere Menschen. Bündnispartner finden, Kinder betreuen, Feinde abwehren, Territorium sichern, Gegenseitigkeiten bilanzieren, Status erwerben, Rivalen ausschalten, Vertrauen schaffen, Gruppenzugehörigkeit erlangen, Informationen über andere erwerben (z. B. durch Klatsch und Tratsch) und ähnliches waren in der Vergangenheit zentrale Lebensaufgaben. Die resultierenden Anpassungen, welche die Natur des Menschen maßgeblich charakterisieren, sind daher soziale Anpassungen. Der Mensch wird deswegen in seiner Ontogenese nicht von Grund auf sozialisiert, sondern er ist evolutionär vorsozialisiert (Stayton/Hogart/ Ainsworth 1971) und damit auf soziale Aufgaben vorbereitet. Der Erwerb der Gesichtererkennung schon in den ersten Lebenswochen legt nahe, dass Neugeborene gewisse Kenntnisse über die Struktur menschlicher Gesichter mitbringen (Morton/Johnson 1991). Die Bevorzugung von schönen Gesichtern (Langlois/Roggman/Casey/Ritter/Rieser-Danner/ Jenkins 1987) und schönen Puppen (Langlois/Roggman/Rieser-Danner 1990) gegenüber weniger schönen schon im ersten Lebensjahr ist nicht vereinbar mit der Annahme, dass Schönheitsideale nur kulturbedingt seien. Die erstaunliche Leichtigkeit, mit der die Muttersprache in den ersten Lebensjahren erworben wird, und wie trotz defizitärer Eingaben (z. B. Pidgin) Kinder zu kompetenten Sprechern mit vollentwickelten linguistischen Strukturen werden, muss Vorkenntnisse linguistischer Strukturen voraussetzen (Pinker 1996). Die Existenz solcher ideae innatae ist auch bei verschiedenen Aspekten von Gewalt naheliegend. Die geschlechtsdifferenzielle Gewaltneigung bei Jungen und jungen Männern, deren Risiko- und Wettbewerbsbereitschaft und die Häufigkeit externalisierender Störungen bei Jungen vs. internalisierender Störungen bei Mädchen ist nicht primär die Folge geschlechtsspezifischer Sozialisation, sondern Ausdruck geschlechtstypischer evolutionärer Strukturvorgaben (Daly/Wilson 1985). Vermeintliche Sozialisationsagenten zeichnen diese Strukturvorgaben eher nach als dass sie sie originär vorgeben (Bischöf-Köhler 1993: 256), aber sie können sie durchaus akzentuieren, stereotypisieren und traditional verfestigen.
Zitat Ende.

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