Mittwoch, 17. Januar 2007

Das gemeinsame Geschlechtschromosom

Der folgende Artikel enthält einige wichtige Aussagen. Die wichtigste: Das X-Chromosom ist sowohl ein weibliches als auch ein männliches Chromosom, denn viele Gene, die in den Hoden aktiv sind, liegen auf dem X-Chromosom und eine Hypothese besagt, dass sich auf dem X-Chromosom Gene anhäufen, die Männern einen Selektionsvorteil bringen.
Männer wie Frauen sind Single-X-Träger. Die Männer, weil sie nur ein X-Chromosom besitzen; die Frauen, weil ihr zweites X-Chromosom abgeschaltet wird.
Das X-Chromosom ist an die Besonderheit von Männern angepasst.
Interessant auch der geringe Genbestand dieses Chromosoms. Warum das so ist, habe ich schon an anderer Stelle erklärt: Geschlechtschromosomen neigen zum Verschwinden.
Wenn eine Frau Söhne gebiert und diese Söhne zeugen wieder Söhne, dann ist das X-Chromosom weg, aus dem Genpool der Art verschwunden, trotz Fortpflanzung. Auf so einem flüchtigen Datenträger wird man nur wenige und im Genpool der Art retundant vorhandene Informationen ablegen.

Pressemitteilung
aus Anlass der Publikation „DNA Sequenz des menschlichen X-Chromosoms“ in NATURE am
17. März 2005; Kontaktpersonen siehe Ende der Mitteilung.
SPERRFRIST 16. März 2005, 19 Uhr MEZ.

Biologie und Evolution des gemeinsamen Geschlechtschromosoms von Frau und Mann

Umfassende Sequenzanalyse des menschlichen X Chromosoms publiziert
Gemeinsam mit drei der weltgrößten Genomzentren in GB und den USA haben vier deutsche
Gruppen vom Leibniz-Institut für Molekulare Biotechnologie (IMB, Jena), dem Max-Planck-
Institut für Molekulare Genetik (MPIMG, Berlin-Dahlem) der Ludwig-Maximilians-Universität
(LMU, München) und dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ, Heidelberg) ihr Ziel
nach mehr als 12 Jahren intensiver Forschungsarbeit erreicht. Sie veröffentlichen am 17.
März in der renommierten internationalen Fachzeitschrift NATURE ihre umfassende Analyse
der fertiggestellten DNA-Sequenz des menschlichen X-Chromosoms.

Das X-Chromosom ist entscheidend für die Geschlechtsbestimmung der Frau und
des Mannes.

Schon darum hat es früh das besondere Interesse der Genetiker auf sich
gezogen. Gen-Defekte auf diesem Chromosom zeigen sich besonders häufig, betreffen
vorwiegend Männer, da sie ja nur ein X-Chromosom besitzen und werden deshalb nie direkt
vom Vater zum Sohn weitergegeben. Darüber hinaus ist die Geschlechtsbestimmung bei der
Frau durch zwei X-Chromosomen und beim Mann jeweils durch ein X- und Y-Chromosom
eine recht späte Erfindung der Evolution. Noch bei den Vögeln wird das Geschlecht ganz
anders bestimmt. Auch musste sich in der Evolution ein diffiziler Mechanismus entwickeln,
um die erhöhte Gendosis von zwei X-Chromosomen der Frau im Vergleich zum Mann zu
kompensieren.

Dieser als X-Inaktivierung bezeichnete Prozess schaltet sehr früh in der
Entwicklung des weiblichen Embryos zufällig eines der beiden X-Chromosomen ab und ist
auch heute noch in vielen Details unverstanden.

Die genetische Struktur des X-Chromosoms wird in Deutschland schon seit langem
analysiert. So veröffentlichte Hans Lehrach bereits 1986 in NATURE Ergebnisse zur
Kartierung der Duchenneschen Muskeldystrophie und arbeitete später an weiteren Xgekoppelten
Erkrankungen, X-Inaktivierung und chromosomaler Evolution.

Alfons Meindl kartiert und charakterisiert seit 1990 erfolgreich Gene, die bei Augenerkrankungen und
geistiger Entwicklung eine Rolle spielen. Annemarie Poustka (DKFZ) publizierte seit 1991
zahlreiche Studien zur hochaufgelösten Kartierung der genreichen Region Xq28 und der
Identifizierung nahezu aller in diesem Bereich befindlichen Gene. Basierend auf dieser
Kartierungsarbeit wurde 1993 am IMB (Jena) gemeinsam mit dem Sanger Institut (GB) die
systematischen Sequenzanalyse des X-Chromosoms begonnen.
Die jetzt in NATURE vorgestellte Arbeit verdeutlicht erneut den enormen Wert von
systematischen und international koordinierten Hochdurchsatzstudien für die Beantwortung
von grundlegenden biologischen und medizinischen Fragestellungen, die nun vor dem
Hintergrund der hochgenauen Sequenz von 99,3% des euchromatischen (genhaltigen)
Anteils des X-Chromosoms in neuem Licht diskutiert werden können.

Nur etwa 4% (1.098) aller menschlichen Gene befinden sich auf dem X-Chromosom. Wahrscheinlich wurden in
der Evolution jene Gene, deren Funktion die gleichzeitige Expression von zwei Kopien
erfordert, vom Geschlechtschromosom auf andere Chromosomen „ausgelagert“.

Doch obwohl sich das X-Chromosom in der vorliegenden detaillierten Analyse eher als eines der
Gen-ärmeren zeigt, konnte bisher eine überproportional hohe Zahl von Erbkrankheiten mit
diesem Geschlechtschromosom korreliert werden. Ca. 10% (307) aller bekannten monogenen
(d.h. durch Veränderung eines einzigen Gens hervorgerufenen) Erbkrankheiten werden dem
X-Chromosom zugeordnet. Für nur etwa die Hälfte dieser Erkrankungen ist heute die
molekulare Ursache bekannt. Doch schon mehr als ein Viertel dieser Entdeckungen
profitierten von der Verfügbarkeit der Sequenz des X-Chromosoms. Für zukünftige
Forschungsstrategien wird sie unerlässlich sein. So z. B. gilt es, über die 45 schon bekannten
X-chromosomalen Gene hinaus, deren Defekte mentale Retardierung (geistige Behinderung)
verursachen, ca. 100 weitere zu identifizieren, die für dieses häufige Krankheitsbild
wesentlich sind. Die umfangreiche Kenntnis solcher Gene wird zum tieferen Verständnis
kognitiver Prozesse und möglicherweise zur Entwicklung neuer Behandlungsmethoden
beitragen.
Besonders bemerkenswert ist, dass auf dem X-Chromosom etwa drei Viertel der
Gene gefunden wurden, die normalerweise nur in den männlichen Keimdrüsen (Hoden) und
im Krankheitsfall in Krebsgeschwüren aktiv sind. Etwa 10% aller X-chromosomalen Gene
gehören zu dieser Gruppe.

Das unterstützt die Hypothese, dass sich in der Evolution auf dem X-Chromosom besonders schnell Gene fixieren, die dem Mann einen Selektionsvorteil bieten.
Sind diese jedoch mit Nachteilen für den weiblichen Organismus verbunden, beschränkt sich
ihre Aktivität auf die Hoden.

Der in diese Arbeit erstmals mögliche umfassende Vergleich beider Geschlechtschromosomen
des Menschen erlaubt neue Einblicke in deren Evolution. Vor ca. 300 Mio.
Jahren begann eine schrittweise Unterdrückung des genetischen Austausches zwischen den
beiden Kopien eines Vorläufer-Chromosoms, der die dramatische Verkleinerung des späteren
Y-Chromosoms zur Folge hatte. Für diesen Prozess konnte nun eine bisher unbekannte
Etappe identifiziert werden. Trotzdem finden sich für 54 X-chromosomale Gene noch immer
homologe Partner auf dem Y-Chromosom. Weiterhin kann jetzt die Abstammung des X Chromosoms
von einem Nicht-Geschlechtschromosom eindrucksvoll durch einen Vergleich
mit Chromosom 4 des Huhns bestätigt werden. Weitere Vergleiche mit Maus, Ratte und Hund
deuten darauf hin, dass das menschliche X-Chromosom dem hypothetischen Vorfahren aller
Säuger-X-Chromosomen am nächsten kommt.
Die nun nahezu lückenlos verfügbare chromosomale Primärstruktur bekräftigt die
Hypothese zur X-Inaktivierung, dass eine bestimmte Art von genomweit sich wiederholenden
Sequenzen auf dem X-Chromosom die Funktion von Schaltstationen bei der Ausbreitung des
Inaktivierungsprozesses übernommen hat. Diese als LINE1 bezeichneten Elemente sind auf
dem X-Chromosom ungewöhnlich häufig und verteilen sich nach einem Muster, das der
schrittweisen Unterdrückung der genetischen Rekombination mit dem Y- Chromosom
entspricht. Komplementär dazu sind ca. 15% aller X-chromosomalen Gene lokalisiert, die
sich auch heute noch der X-Inaktivierung entziehen.
Die jetzt in NATURE veröffentlichten Forschungsarbeiten stellen sowohl die
zukünftige biomedizinische Forschung zur Genetik X-chromosomaler Erkrankungen, als
auch die Arbeiten zu grundlegenden biologischen Fragestellungen, wie X-Inaktivierung und
Evolution der Geschlechtschromosomen, auf ein stabiles und verlässliches Fundament. Der
deutsche Beitrag zu diesem Projekt wurde durch das Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF) im Rahmen des Deutsche Humangenomprojekts (DHGP) und die
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Seit 2001 arbeiten die beteiligten
Gruppen aus Jena (IMB), Berlin (MPIMG), München (LMU) und Heidelberg (DKFZ) im
Nationalen Genomforschungsnetz (NGFN) an der engen Verknüpfung von genomischer und
klinischer Forschung.
Kontakte:
Dr. Matthias Platzer
Genomanalyse,Institut für Molekulare Biotechnologie
(IMB), Beutenbergstr. 11, 07745 Jena
Tel: (03641) 65 6241; Fax: (03641) 65 6255
E-Mail: mplatzer@imb-jena.de
Prof. Dr. Hans Lehrach
Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik (MPIMG),
Ihnestr. 73, 14195 Berlin-Dahlem
Tel: (030) 8413 1220, Fax: (030) 8413 1380
E-Mail: lehrach@molgen.mpg.de
Prof Dr. Alfons Meindl
Institut für Humangenetik, Ludwig-Maximilians-
Universität (LMU), Goethestr. 29, 80336 München
Tel: (089) 5160 4467; Fax:(089) 5160 4780
E-Mail: alfons@pedgen.med.uni-muenchen.de
gegenwärtige Adresse: Klinikum rechts der Isar,
Gynäkologische Tumorgenetik an der Frauenklinik,
Ismaninger Str. 22, 81675 München
Prof. Dr. Annemarie Poustka
Abt. Molekulare Genomanalyse, Deutsches
Krebsforschungszentrum (DKFZ), Im Neuenheimer
Feld 580, 69120 Heidelberg
Tel: (06221) 42 4646
Fax: (06221) 42 3454
E-Mail: a.poustka@dkfz-heidelberg.de

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