Montag, 22. Januar 2007

Berechnung und Hingabe

Der hier zitierte Artikel enthält einige interessante Passagen, darunter die, dass die Trennung von männlicher Berufssphäre und weiblicher privater Sphäre keineswegs die Stellung der Frau sondern die Bedeutung des Mannes in der privaten Sphäre geschwächt habe.
Ein bemerkenswerter Ansatz. Aber lesen Sie selbst.

Was mir auffällt ist, dass die in der Eingangsgeschichte bemängelte Einstellung von Casanova noch heute die Einstellung der meisten Frauen ist.

DIE ZEIT

Berechnung und Hingabe


Der Kapitalismus hat einst die Trennung von Ökonomie und Leidenschaft ermöglicht. Darin lag seine Kreativität. Heute verschmelzen wieder Markt und Gefühl.

Von Eva Illouz

In seinen Memoiren berichtet Giacomo Casanova, wie er einmal einer Komtesse vorgestellt wird und sofort von ihrer Schönheit gefesselt ist.
Am nächsten Tag sucht er die Dame zu Hause auf und wird in ein Wohnzimmer mit »vier wackeligen Stühlen und einem schmutzigen Tisch« geführt. Auch das Erscheinen der Komtesse macht den armseligen Anblick nicht besser, im Gegenteil. Casanova erschrickt über die Schäbigkeit ihres Negligés. Die Komtesse erklärt ihm, dass trotz seiner adligen Herkunft ihr Vater nur über ein kleines Salär verfüge und dieses mit neun Kindern teilen müsse.
Casanovas Reaktion ist von keinerlei Gewissensbissen getrübt: »Ich war selbst nicht begütert, und da ich nach diesem Anblick nicht länger verliebt war, seufzte ich nur tief und blieb so kalt wie Eis.«

Casanova erweist sich als kaltblütige Buchhalterseele. Seine feurige Leidenschaft erlischt in dem Moment, da er die erbärmliche Lage der Dame erkennt, als sei es selbstverständlich, sind seine Gefühle von ökonomischen Interessen durchdrungen.

Anders als wir es heute vielleicht empfinden, war Casanovas Haltung damals alles andere als unmoralisch. Vielmehr gehörte es in der vorkapitalistischen Welt einfach zur Moral dazu, dass man das Objekt seiner Begierde in Ansehung seines gesellschaftlichen Standes wählte. Denn in einer Wirtschaft mit beschränktem Arbeitsmarkt und geringer Güterzirkulation waren Besitz und Erbe für den sozialen Status entscheidend.

Besitz konnte man meistens nur durch entsprechende Heiraten sichern oder mehren. So war in der vorkapitalistischen Welt das Privatleben wirtschaftlichen Strategien, Zwecken und Zielen untergeordnet.

Entscheidungen in Liebesdingen waren von wirtschaftlichen Erwägungen beeinflusst.

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