Freitag, 5. Januar 2007

Die genetisch-kulturelle Ko-evolution

Die genetisch-kulturelle Ko-Evolution
Charles Lumsden 03.05.1999

Die Evolutionsbiologie und die Erklärung der menschlichen Kreativität Teil IV

Während der überwiegende Teil der Evolution bei den Tieren aus der unterschiedlichen Replikation der genetischen Information entsteht, ist bei der Evolution der Menschen notwendigerweise die unterschiedliche Weitergabe sowohl der genetischen als auch der kulturellen Information beteiligt. "Kulturelle Information" ist hier eher ein Verlegenheitsbegriff als eine buchstäblich zutreffende Beschreibung. Er bezieht sich auf solche Dinge wie Geschichten, Glaubensvorstellungen und Zeremonien, die auf symbolische Weise den Individuen in jeder menschlichen Gesellschaft gemeinsam sind. Veränderungen in der Fülle von Varianten einer Geschichte oder eines zeremoniellen Verhaltens schließen die kulturelle Evolution in ihrer am einfachsten erkennbaren Form ein. Die Soziobiologie behauptet, daß Gene und Kultur sich nicht unabhängig voneinander, auf getrennten und isolierten Wegen entwickeln. Die Neurobiologie der menschlichen mentalen Entwicklung macht sie wechselseitig voneinander abhängig, was zum Prozeß der genetisch-kulturellen Ko-Evolution führt (Lumsden and Wilson 1981). Die genetisch-kulturelle Ko-Evolution scheint in der genetisch-kulturellen Vererbung basiert zu sein, in einem Prozeß lebendigen Wachsens und Sich-Entwickelns, bei dem angeborene Lernfähigkeiten auf bestimmte Formen oder Typen von Informationen reagieren und so die zentralen Tendenzen markieren, um die herum kulturelle Vielfalt entsteht. Auch wenn die menschlichen Kulturen sich gewaltig in den Einzelheiten ihrer Verwandtschaftsterminologien unterscheiden, so fehlen keiner Kultur Begriffe, um der Position eines jeden in der Aufeinanderfolge von jung und alt Bedeutung zu verleihen.
Die Geschichte des Menschen verbindet die Linien der kulturellen und der biologischen Evolution
Ed Wilson und ich haben den spezifischen Begriff "epigenetische Regel" eingeführt, um die Muster der genomischen Expression zu bezeichnen, die die Entwicklung des individuellen Geistes begleiten (Lumsden and Wilson 1981, 1983). Jede epigentische Regel, die den Geist und das Verhalten beeinflußt, enthält ein oder mehrere Elemente einer komplexen Ereignisfolge, die an verschiedenen Orten im Nervensystem und im Geist stattfindet. Wir fanden es nützlich, diese Elemente in zwei hauptsächliche Klassen zu unterteilen: in primäre epigentische Regeln, die von der anfänglichen sensorischen Filterung bis zur Wahrnehmung reichen, und in sekundäre epigenetische Regeln, die die Entwicklung zentraler Eigenschaften und Fähigkeiten wie Temperament, Persönlichkeit und Glaubensvorstellungen vermitteln, kraft derer die Menschen prädisponiert sind, die Weitergabe bestimmter Varianten der kulturellen Information eher als andere zu fördern. Die primären epigenetischen Regeln sind stärker genetisch festgelegt und weniger flexibel. ......Jede Klasse übt wichtige Einflüsse auf die Fähigkeit des Geistes zur Selbstorganisation aus und hat zu einer parallelen oder konvergenten Evolution in unabhängigen Kulturen geführt.
Bei der genetisch-kulturellen Evolution wirkt ein Mechanismus der Reziprozität: Kultur wird von den biologischen Zwängen hervorgebracht und geformt, die in den epigenetischen Regeln verkörpert sind, während die Gene die Veränderungen der epigenetischen Regeln in Reaktion auf sich wandelnde kulturelle Bedingungen gestalten. Selbst wenn die natürliche Selektion in der genetisch-kulturellen Evolution eine herausragende Rolle spielt, wie sie dies auch in der bekannteren Verwandtschaftsselektion und im reziproken Altruismus der tierischen Soziobiologie macht, können sich ihre Auswirkungen auf soziale Populationen sehr von den allein aufgrund der genetischen Evolution erwarteten unterscheiden. Epigenetische Regeln für kulturelles Lernen können stark nonlineare Kopplungen zwischen genetischer und kultureller Evolution mit überraschenden Ergebnissen schaffen. Die Vielfalt der möglichen evolutionären Ergebnisse kann vergleichsweise größer und die Geschwindigkeit, mit der sie von der Population erreicht werden, kann schneller sein. Altruistisches Verhalten kann sich in einer genetisch-kulturellen Population ohne die Hilfe der Verwandtschaftsselektion, des reziproken Altruismus oder irgendeinem anderen der Mechanismen verbreiten, die man normalerweise für das soziale Verhalten von Tieren berücksichtigt.
Die genetisch-kulturelle Ko-Evolution ist ein kausaler Whirlpool der Geschichte, in dem die Kultur von dem biologischen Imperativ geformt wird und Gene als Antwort auf wechselnde kulturelle Möglichkeiten verschoben werden.
Die Erforschung der genetisch-kulturellen Ko-Evolution ist eine Entwicklung in der Soziobiologie und der Evolutionswissenschaft, die die Schaffung eines Erklärungsnetzwerkes zwischen der Biologie und den Sozialwissenschaften unterstützen soll. Sie ist so angelegt, daß sie alle kulturellen Systeme, angefangen von den Protokulturen der Schimpansen und Delphine bis zu den heterarchischen proteischen Kulturen der Menschen, aber auch Kulturformen einschließt, die bislang nur mit der Phantasie zugänglich waren. Auf diesem Weg trifft die Soziobiologie jedoch direkt auf die menschliche Kreativität als einer geschichtlichen Kraft (Lumsden and Wilson 1981; Findlay and Lumsden 1988; Lumsden 1997, 1998). Unsere Versuche, den Kreislauf der genetisch-kulturellen Evolution darzustellen, wie er sich durch die Imagination auf dem Weg von der Biologie zur Gesellschaft und wieder zurück erstreckt, hat zu verwirrenden Fragen über die Grenzen der soziobiologischen Erkennens und des wissenschaftlichen Verstehens des Geistes im Allgemeinen geführt.

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