Freitag, 5. Januar 2007

Lamias Tränen

Lamias Tränen
Charles Lumsden 29.10.1998

Die Evolutionsbiologie und die Erklärung der menschlichen Kreativität Teil III

Arme Lamia. Sie war solch eine wunderschöne leidenschaftliche Nymphe. Durch den wahrheitssuchenden Blick eines Philosophen erblaßte sie zuerst und schwand dann dahin. In Korinth gab es an diesem Tag keinen Platz für die Unwahrheit.
Do not all charms fly at the mere touch of cold philosophy? Keats, Lamia
Doch irgendwie denke ich, daß Keats, wenn er dies heute in unseren mitreißend chaotischen post-derridaschen Zeiten schreiben würde und nicht in der Kühle epistemischer Winde hätte erzittern müssen, die vom schottischen Hochland (Abrams 1953; Kallich, 1970) herunterbliesen, seine Muse vielleicht erfüllendere Lobgesänge der Philosophie anstimmen hätte lassen. Anstatt der den Regenbogen entzaubernden Naturphilosophie, die er vom augustinischen Neoklassizismus kannte, können wir uns heute natürlich auf die moderne, immer stärker abstrus, technologisch und kommerziell werdende Wissenschaft berufen. Philosophie, die zu ihrem Besten aus dem Geschäft mit der Natur ausgeschlossen wurde, ist, wie man hofft - wir Wissenschaftler haben jetzt das Monopol! - wieder einmal zu eklektizistisch geworden, um sich in die Beschränkungen eines totalisierenden Schemas hineinzuzwängen: die Alte und die Neue Welt zerschlagen transatlantisch die schönen Proportionen.
Unter diesem allgemeinen Zermalmen und Zerstoßen liebgewordenen Schulen hört man jetzt neue Töne aus wissenschaftlichen und philosophischen Bereichen, die mit der Sequenzierung des Genoms, der zeitlichen Bestimmung von Zellzyklen, dem Scannen von Gehirnen, den Berechnungen von neuronalen Netzen und ähnlichem sagen, daß jetzt der Geist - der menschliche Geist, unser Geist - zu einem Problem der Wissenschaft geworden ist. Der blinde Uhrmacher hat einen wissenschaftlichen Gegenstand gebaut, der denken und die Wahrheit über sich selbst erkennen kann. Philosophen braucht man dazu nicht mehr, abgesehen vielleicht für die Aufgabe eines Wächters der Rhetorik, der dabei hilft, unsere Symbole anschaulich und unsere Sprache klar zu lassen.
Ich jedenfalls glaube das nicht ganz. Die Überzeugung, daß die Wissenschaft alleine alles Wichtige für die Erkenntnis des Geistes besitzt, scheint mir nicht nur töricht zu sein, sondern, wenn man sie halbwegs ernst nimmt, auch ganz und auf gefährliche Weise falsch. Ich denke darüber ganz konventionell, doch die dabei verwendeten Begriffe scheinen mir von den Wissenschaftlern zu wenig verstanden zu werden. In der einzigen Welt, in der wir leben können, nämlich in der unserer Gesellschaften und Kulturen, bedeutet es, wenn X einen Geist von der Art besitzt, wie er für meine Anliegen hier relevant ist, daß X eine Person, ein moralisches und ästhetisches Lebewesen (Taylor 1989) ist. Solche Lebewesen haben Merkmale wie das Recht auf Leben, Würde und Freiheit, die sich von denjenigen unterscheiden, wie sie im wissenschaftlichen Diskurs bearbeitet werden. Man kann keine naturalistischen Hypothesen in eine empirische Mühle von Hypothesen und Falsifikationen stecken, sondern es müssen selbstevidente philosophische Entdeckungen im Bereich des Selbst und der politischen Macht behauptet und verteidigt werden. Alle Versuche, die moralischen Merkmale der Persönlichkeit auf natürliche Eigenschaften zu reduzieren, sind glücklicherweise bislang gescheitert, zumindest gemessen an ihren tatsächlichen Auswirkungen auf die Struktur und Praxis der Wissenschaft. Trotz einer aufblühenden Schönheit (McAllister 1996) und großer praktischer Schlagkraft (Bijker 1997) bleibt die moderne Wissenschaft bei der Bestimmung oder Messung von Dingen wie Rechten oder bei der Beurteilung von Gut und Böse stumm (auch wenn dies anders ist, sobald sie in den Händen eines sehr geschickten Menschen dazu etwas beiträgt).
Aber das ist, wie ich glaube, auch nicht die ganze Geschichte, wegen der sich alle großen Behauptungen über den Geist als ein wissenschaftliches Objekt mit Mißtrauen begegnen lassen, da Wissenschaftler und Philosophen mit ähnlichen Überzeugungen eine überschießende Faszination an Stil gemeinsam haben, besonders an einem Stil in der Form von Propositionen, über die Diskussionen über die Wahrheit aufkochen können. Eine abschließende Lösung solcher Diskussionen würde ein Text sein, der die "Gesetze des Geistes" enthält, aus denen der Fluß unserer menschlichen Existenz auf deduktive Weise strömt. Das ist sicherlich ein wissenschaftlicher Traum, aber läßt sich alles, was man über das menschliche Wesen entdecken kann, in Form von Propositionen, Deduktionen und Feilschereien über die Wahrheit zum Ausdruck bringen? Die Subjektivität des Seins, die nicht-diskursive Poesie unseres Lebens, ist offensichtlicher größer (Taylor 1989). Daher sind Symphonien neben der Wissenschaft wichtig, was auch für Romane, Gemälde, verliebte Blicke und heilende Zärtlichkeiten zutrifft (Goodman 1976, Scruton 1983).
Für die Auskristallisierung dieses Aspekts können wir uns nicht nur Keats, sondern auch Coleridge und Hazlitt (Abrams 1953, Albrecht 1965, Engell 1981) zuwenden. Das sind drei Quellflüsse, die zum englischen und schottischen Kritizismus des 18. Jahrhunderts (Bate 1945, Kallich 1970) zurückführen und auf die moderne Soziobiologie des Mitleids und des Altruismus vorweisen: die menschliche Person ist besessen von einer sympathetischen Phantasie, die ein Mittel der Erkenntnis durch die Verschmelzung mit einem anderen darstellt. Die bekannte Kritik von Coleridge an den Gedichten von Wordsworth setzte die Unterscheidung zwischen einem Mitgefühl für ... und einem Mitleiden mit ... durch (Wordsworth wurde von seinem alten Freund beschuldigt, zuviel des ersteren zu haben: ST Coleridge 1983/1817, v.a. II, 15, 22; HN Coleridge 1874/1835, S. 181, auch wenn beide ihren Platz im Drama des menschlichen Wissens haben). Wenn wir mit einem mißbrauchten Kind mitleiden, kennen wir das Mitgefühl, das sein Leiden verdient, und wissen wir, wie dringlich mit seiner Heilung begonnen werden muß. Aus der Wissenschaft können wir auch die Mechanismen des Familienkonflikts und die persönliche Psychopathologie kennen, die dabei eine Rolle spielte. Doch wie tief unsere Deduktionen auch immer gehen mögen, so bleiben wir doch immer distanzierte Beobachter. Wenn wir mitleiden, werden wir auf andere Weise verändert. Ihre Agonie wird die unsere, und wir erfahren das Leben durch ihre Augen. Im ersten Fall sind Subjekt und Objekt getrennt, auch wenn es ein wechselseitiges Entgegenkommen geben mag. Im zweiten Fall werden sie durch die epistemische Erotik, der nur moralisch-imaginative Lebewesen sich öffnen können, eines.
Sympathetische Imagination zieht das Selbst in den Anderen hinein

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