Donnerstag, 24. Mai 2007

Bürgerliche Ehe und Familie

Aus: junge linke - gegen kapital und nation

Bürgerliche Ehe und Familie

Dieses Referat wendet sich gegen die falsche Vorstellung, daß Ehe und Familie oder einfach nur eine Zweierbeziehung ein Reservat vor den Auswirkungen von Gesellschaft und Politik bildet. Als zu untersuchenden Gegenstand nehme ich mir Ehe und Familie vor, weil sie als die Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft mit dazu beiträgt, die Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise zu reproduzieren. In der Form der Ehe findet sich ein festgelegtes Verhältnis, in dem sich die Geschlechter zueinander verhalten sollen. Dieses Verhältnis wird sowohl durch geltendes Recht und durch die falschen Vorstellungen der Leute vorgefunden und gleichermaßen beibehalten.

Liebe, Sex und Familie hält man gemeinhin für das, was ganz privat ist und sein soll. Wen ich liebe, ist tatsächlich eine freie Willensbestimmung – interessant ist, wie das in der bürgerlichen Gesellschaft abläuft. Bei der Betrachtung von Ehe und Familie beschränke ich mich auf die Umstände der bürgerlichen Gesellschaft unter kapitalistischer Produktionsweise. Einen historischer Abriß, der ausführlicher sein müßte als ich es hier leisten kann, spare ich aus.
Daß Eheschließung und die Gestaltung des Ehe- und Familienlebens „Privatsache“ der Beteiligten ist, war nicht immer so.

Seit der Romantik ist die Ehe der Ort, an dem die „wahre Liebe“ ihre Bestätigung finden soll. Die Liebesheirat ist eine Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Und auch wenn die Scheidungsraten steigen: Die monogame heterosexuelle Zweierbeziehung gilt als die Norm des bürgerlichen Zusammenlebens. Diese Zweierbeziehung soll dann in der Ehe münden, bleibt aber auch ohne Heirat strukturell der Ehe ähnlich. Die Liebe als ein Gefühl soll mit der Ehe gekoppelt werden: Ein Gefühl wird in die Form einer Institution gebracht. Auf das Gefühl der Liebe läßt sich keine Ewigkeit geben, aber durch die Institution Ehe wird aus der Beziehung ein berechnendes Verhalten zueinander auf Lebenszeit gemacht.

In diesem Referat soll untersucht werden, welches Interesse der Staat an der Institution Ehe und Familie hat, und warum sich diese Institution als Ort der individuellen Reproduktion erhält. Der Staat muß niemanden zum Heiraten zwingen und trotzdem erhält sich die Ehe als individuelle Norm und scheinbares Bedürfnis der bürgerlichen Subjekte.

Früher war Ehe und Familie eine ökonomische Gemeinschaft, die nicht unbedingt an Liebe gekoppelt war. Was die Liebe „aushalten“ muß, ist ein wichtiger Faktor geworden, denn mit den individuellen Anforderungen der Reproduktion fertig zu werden ist einfacher, wenn es mit einer emotionalen Verbindung geschieht. Dementsprechend ist der Anspruch der Ehe gestiegen: Harmonisches Miteinander und Geborgenheit ist das Ideal, an dem sich die Ehe zu messen hat. Probleme, die aus der individuellen Reproduktion hervorgehen, werden zu einem individuellen und privaten Problem gemacht, obwohl sie eigentlich gesellschaftlich sind. Dahinter steckt eine Verklärung der Verhältnisse: Erklärt man die Ehe als das immer Private und Intime, schließt man eine generelle Kritik aus und macht das Problem zu einem scheinbar rein individuellen Problem. Und genau das ist das Ideologische.

Man denkt sich in der Liebe frei, ist aber dennoch an gesellschaftliche Bedingungen gebunden. Anfangen tut das damit, daß man für seine eigene Reproduktion sorgen muß: Man muß arbeiten gehen (die Glücklichen, denen das erspart bleiben kann). Und dann ist man auch schon drin in der Tretmühle der kapitalistischen Produktionsweise: Man muß seine Arbeitskraft gut verkaufen, denn schließlich gibt es auf dem Arbeitsmarkt viele. Immer nett im Kundenverkehr, vom Chef auch mal einen Rüffel einstecken, immer kuschen müssen und nie das Band abstellen zu können – den Sinn für sich, außer dem schnöden Lohn, den man nun mal zum Überleben braucht, findet man in der Lohnarbeit nicht. Natürlich lügen sich auch viele in die Tasche: Sie versuchen sich mit dem Betrieb zu identifizieren oder auch mit dem Beruf, weil man sich die Ausbildung zu seiner Qualifikation ganz seinen Neigungen gemäß ausgesucht hat. Was immer man sich so an falschen Vorstellungen zu eigen macht, arbeiten gehen zu müssen, bleibt ein aufgeherrschter Zwang.

Ein Paar, besonders eines, das den Ehebund eingegangen ist, steht nicht in Konkurrenz zueinander: Sie bilden eine Gemeinschaft, in der sie sich den sonstigen Konkurrenzkalkulationen der kapitalistischen Gesellschaft ausnehmen. Weil man draußen in der feindlichen Welt das Glück nicht finden kann, weil Konkurrenz herrscht, sucht man es zu Hause: Da richtet man sich schnuffelich ein und macht sich wieder fit für den nächsten Arbeitstag; da sucht man das Glück in einer trauten Zweierbeziehung.

Wenn man schon den ganzen Tag arbeiten geht, dann will man sehen wofür. Daß man einfach leidlich dahinlebt, reicht da nicht. Bei der Arbeit herrscht der Zwang und herrscht die Konkurrenz. Da darf man nicht sein wie man will, während man sich zu Hause nicht beweisen muß, weil dort andere Maßstäbe gelten.
Weil man die Zeit gern zu zweit verbringt, zieht man vielleicht zusammen, denn bei acht Stunden Arbeit könnte man dann wenigstens die Freizeit zusammen verbringen. Das Glück dann tatsächlich in der Freizeit zu suchen und nicht in der Arbeit, ist eine noch recht neue Sache.

In der ideologischen Vorstellung, warum man Kinder kriegen sollte werden die Blagen zum „lebenden Beweis der Liebe“. Früher galt es eher, einen „Stammhalter“ zu finden, einen der Haus und Hof erbt und dafür sorgt, daß Hab und Gut nicht verfällt, sondern in der Hand der nächsten Generation fortbesteht. Der Stellenwert des Erbrechts ist nicht unbedeutender geworden und dennoch wird sich auch dieses Verhältnis als eine Tat aus Liebe übersetzt.

Der Staat hat an der Ehe ein Interesse. Als ideeller Gesamtkapitalist ist es seine Aufgabe, die Reproduktion einer arbeitsfähigen Bevölkerung zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise und des gesamten gesellschaftlichen Lebens zu regeln. Dazu gehört auch, daß der Staat ein gesteigertes Interesse an immer neuen Nachwuchs hat, damit auf eine ausreichend große und qualifizierte Menge Menschenmaterial für die Produktion zurückgegriffen werden kann. Die Zurichtung der Menschen zu produktiven Gliedern der Gesellschaft erreicht der Staat einerseits durch die Einrichtung eines Bildungswesens und Schulpflicht und andrerseits durch einen Erziehungsauftrag an die Familie. Im Artikel 6 des Grundgesetzes heißt es: „1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, 2.) Pflege und Erziehung der Kinder ist das natürliche Recht der Eltern und zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“

Aufgabe der Eltern ist also die Sozialisation des Nachwuchses, die Einführung der Kinder in Regeln und Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das soll in der Form der Kleinfamilie stattfinden, in der die gesamte individuelle Reproduktion ihren Ort hat. Damit auch immer ausreichend Nachwuchs produziert wird, räumt der Staat den Eltern finanzielle Privilegien ein wie Kindergeld und Kinderfreibetrag. Das Jugendamt als staatliche Instanz kontrolliert und überwacht die Aufzucht und Erziehung der Kinder. Es greift ein, wenn etwas schief läuft. Elternlose Kinder werden zur Adoption freigegeben und der Erziehungsauftrag ergeht an die Adoptiveltern. So braucht der Staat es nicht zu seiner Aufgabe rechnen, diese ordentlich zu betreuen und zu ernähren. Ein repressives Instrument der Bevölkerungspolitik ist der §218. Die Entscheidung über die Geburt eines Kindes darf nicht (oder nur eingeschränkt) die Mutter treffen, sondern diese trifft der Staat, indem er Abtreibung unter Strafe stellt. Die Frau darf nicht selbst über ihren Körper und ihre Lebensplanung entscheiden. Auch die aktuelle „Straffreiheit“ ist nur eine scheinbare: Weiterhin gibt es die Beratungspflicht und die medizinische Indikation, letztlich läßt sich der Staat die Mitentscheidung in dieser Frage nicht nehmen.

Durch den Lohn ist die materielle Grundlage der individuellen Reproduktion der Arbeiter gewährleistet. Der bürgerliche Ehevertrag ist wie jeder Vertrag einer zwischen formal Gleichen, der dazu dient, die Sphäre der Kleinfamilie formal aus der Konkurrenz herauszunehmen. Dem einzelnen wird der Schein von Sicherheit gegeben, sich auch dann reproduzieren zu können, wenn er seine Arbeitskraft gerade nicht verkaufen kann, weil die Reproduktion vom Vertragspartner mit getragen werden muß, wenn dieser gerade seine Arbeitskraft verkaufen kann. In der Ehe ist man um einen gemeinsamen Vorteil bemüht, man gibt den Standpunkt von Eigentümern untereinander auf. Ehe und Familie werden Mittel zur Bewältigung von Anforderungen und Pflichten. Diese Anforderungen treiben dazu, es praktisch zu finden, wenn einer von Zweien zu Hause bleiben kann, um günstigere Reproduktionsbedingungen zu schaffen.

In der individuellen Reproduktion findet eine Aufgabenteilung statt, die oft anhand der Geschlechter aufgeteilt wird. Da der Mann in der Regel der ist, der arbeiten geht oder gehen muß und die Frau dagegen die Hüterin von Haus und Herd sein soll, ist es auch der Mann, der abends zur Frau kommt und die wohlige Erholung erwartet, nachdem er den Tag über ausgebeutet wurde. Die Frau ist dann seine Reproduktionsgehilfin, sein Ruhepol und die Gegenleistung ist, sie und die Kinder finanziell zu versorgen, was meistens für sie schlicht heißt, im Haushalt den Mangel zu verwalten. Die Frau als Gebärende gilt nur bedingt einsatzfähig, deshalb schätzen kapitalistische Unternehmen die männliche Konstitution als ergiebiges Mittel der verschleißträchtigen Leistungsverausgabung. Das hängt aber nicht an den biologischen Notwendigkeiten, die noch recht klein zu halten wären (Schwangerschaft, Stillen und Wochenbett), sondern an ideologischen Vorstellungen mit denen man der Frau die Aufgaben der ewigen Hausfrau und Mutter zusprechen will: ursprüngliche Mutterliebe und die zu Schwache für das harte Leben jenseits von Küche und Schlafzimmer. So werden manche Funktionen zu geschlechtsspezifischen Eigenschaften der Personen gemacht, um sie so in bestimmte Aufgaben zu drängen.

Diese Rollenverteilung, in der der Mann als Familienernährer für die Produktion und die Frau für die Reproduktion sorgen muß, war sogar einmal gesetzlich festgeschrieben. Erst 1977 wurde der Begriff der „Hausfrau“ aus dem Gesetz gestrichen. Bis 1957 war der Mann befugt, ein von der Frau eingegangenes Arbeitsverhältnis zu kündigen. 1976 wurde ein Paragraph des BGB abgeschafft, wonach die Frau nur dann erwerbstätig sein durfte, wenn dies „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war. Wie nun genau die Rollenverteilung geschieht, ob nun der Mann oder die Frau arbeiten geht, ob das nun in der Form der Ehe oder als jeweils „Ledige“ abläuft – die in der Familie arbeitsteilig zu organisierende Aufgabe bleibt dieselbe.

Der Staat sorgt dafür, daß die individuelle Reproduktion im Privaten bestehen bleibt. Sonst müßte er den Bereich seiner sozialen Aufgaben ausdehnen. Ein Gewinn der Frauenbewegung ist z.B. die Einrichtung von Kindergärten. Doch trotzdem besteht dort immer wieder ein Mangel.

Aus einer Liebe aus der sich nicht gleich eine „for ever in love“ machen läßt, stiftet der Staat ein ewiges Verhältnis; einen Zustand, in dem sich zwei vertraglich zu ihrer Liebe bekennen und dieses Verhältnis per Vertrag zu einem Austauschverhältnis exklusiv und auf Lebenszeit festlegen. „Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen. Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet“ (§1353, Abs.1, BGB). Der Begriff der ehelichen Gemeinschaft beinhaltet die Verpflichtung zu häuslicher Gemeinschaft, zum Familienunterhalt (durch Arbeit und eigenes Vermögen), zu lebenslänglicher Einehe, zu gegenseitiger Rücksichtnahme und zum Verzicht auf die Verwirklichung eigener Interessen zugunsten der Ehe.

Manche finden es vielleicht sogar toll, sich noch eine „außenstehende“ Instanz als Kontrollorgan in das Liebesverhältnis herein zu holen: Da wo sie sich selbst die Treue nicht schwören können, aber sie aus Eifersucht gern eine Treuegarantie hätten, schließt man einen Vertrag ab, der einen genau dazu zwingen soll. Beim genauem Hinsehen merkt man, daß auch der intimste Winkel bis ins Schlafzimmer hinein gesetzlich geregelt ist. Noch 1967 verlangte der Bundesgerichtshof von einer Frau, den ehelichen Beischlaf nicht teilnahmslos oder widerwillig, sondern in Opferbereitschaft und Zuneigung zu vollziehen.

Der Bestand der Ehe und Familie reproduziert sich durch seine eigenen Bedingungen. Familienmensch ist der Bestimmung nach jedes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Der Familialismus, d.h. die Uminterpretation der Funktionalisierung der Individuen für die Kapitalreproduktion per Familie in ein Mittel zu ihrer Selbstverwirklichung (als Mutter, Vater, Kind) durch die Beteiligten selbst, ist für den Staat ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung des sozialen Friedens und des politischen Zusammenhangs (des „Gemeinwesens“). Die Familienmenschen betätigen und bestätigen sich insofern als Staatsbürger. Sie setzen nämlich an sich selbst und aneinander, ihren lieben Nächsten, die durch Kapital und Staat erforderten Beschränkungen eigenhändig durch.

Mit der ökonomischen Abhängigkeit und der Koppelung mit Liebe wächst man auf, die kennt man, die haust sich ein. Intimität kann man nicht „nur so“ erfahren: Zusammenleben und viel teilen wird durch den Vertrag exklusiv und auf Dauer. Oft wird die Familienvorstellung auf ein Naturprinzip gebracht: Welcher Typ bin ich und welcher paßt entsprechend zu mir? Tips zur Partner- und Typberatung finden sich im Jugendjournal Bravo genauso wie der Hinweis aufs Prekäre: Man muß halt auch was einstecken, wenn man wen liebt. Und deshalb sollte man lieber erst mal „seine Erfahrungen machen“ und nicht gleich den Erstbesten heiraten. Und wenn es in der Ehe schief läuft gibt es ja immer noch die Eheberatung.

Einerseits hebt ein Ehepaar durch Vertrag die Konkurrenz untereinander auf, andererseits ist die Ehe durch diese Vertragsform natürlich nicht der Konkurrenz entzogen. Ganz im Gegenteil, denn konzipiert ist dieser Ehevertrag ja gerade auf sein Ende hin: Nämlich dann, wenn der Scheidungsrichter über die Besitzverhältnisse urteilt und das Jugendamt prüft, bei wem die Kinder bleiben sollen. Da ist mit dem Vertrag schon der Fall mitbedacht, daß ein Ehepartner arbeitslos wird oder sich scheiden lassen will. Auch wenn die Zuneigung weg ist, bleibt die Ehe. Es ist zwar möglich die Scheidung einzureichen, die dann nach offizieller Prüfung und langer Trennungszeit auch bewilligt werden kann, aber es bleibt trotzdem die Verpflichtung füreinander zu sorgen, d.h. Unterhalt zu zahlen.

Zu eigen macht sich ein Paar den Zweck seiner Ehe, wenn es die Anforderungen, die ihm die kapitalistische Produktionsweise aufherrscht, der Liebe wegen meistern will. Wenn die Partner aus und für ihre Liebe das auf sich nehmen, was die Produktionsweise ihnen an Gemeinschaftsleben abverlangt, dann machen sie den äußeren Zwang zum integralen Bestandteil der Liebe und des Willens. Das Paar erträgt die Mangelverwaltung, und dann kommt es eben nur darauf an, daß er das Geld nicht versäuft und notfalls sie die Doppelbelastung ertragen muß und auch mal arbeiten geht. Die Höhe des Lohns bestimmt dann doch darüber, wieviel Annehmlichkeit im Verkehr mit dem anderen Geschlecht möglich ist. Und wenn ein ständiger Mangel verwaltet wird, kommt es dabei oft zu Streit.


Bei diesem Text handelt es sich um ein Seminarreferat aus dem Jahr 2000

Tipps eines Profis

Sex, Ehe, Mangelschaden


Ein Beitrag zur Fortbildung des Rechts des Gebrauchsgüterkaufs
Der Artikel des Kollegen Tom zum Thema "Sex vor der Ehe" hat in dankenswerter Weise eines der bisher doch recht unbeachteten Themen in das Augenmerk dieser für eine solche Ansprache doch affinen Community gerückt. Wegen der letztlich aber unvollständigen Behandlung, nämlich einer Betrachtung des Komplexes eher unter moralisch-religiös inspirierten Gesichtspunkten - drängt es mich, hier noch einige ergänzende - vorrangig rechtliche - Gedanken anzubringen.

Ehe - die Ausgangslage

Die Ehe ist nach alter deutschrechtlicher Tradition bekanntermaßen ein Rechtsgeschäft zwischen dem Vater der Braut und dem künftigen Ehemann. Letzterer übernimmt Nutzungen und Lasten sowie die Sorge für die Ehefrau vom Brautvater, der die Frau bis dahin verwaltete. Gegenleistung ist die Zahlung des Brautpreises. Dieser wiederum bestimmt sich nach gesellschaftlicher und materieller Stellung der Familie, aus der die Braut stammt.

Gesamter Text bei: http://www.arnetrautmann.de/privat/me2-1.html

Soziobiologie und Soziologie

Prof. H. Geser: Seminar ‚ sozialer Evolution’ 28. April 2006

Handout von Matthias Näf:

Soziobiologie und Soziologie

Zusammenfassung und zusätzliche Anmerkungen zum Seminartext:
Franz M. Wuketits, 1997: Soziobiologie, Kapitel 3: Die sozialen Lebewesen, S. 25-49.
Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.

In Anlehnung an den Text von Wuketits sollen im Folgenden einige grundlegende Beiträge der Verhaltensbiologie zum Verständnis menschlichen Sozialverhaltens skizziert werden.

Gegenstandsbereich der Soziobiologie
Der Gegenstandsbereich der Soziobiologie ist das Sozialverhalten von Tieren. Dieses beschreibt und deutet sie strikte aus einer evolutionsbiologischen Perspektive, das heisst unter dem Aspekt biologischer Angepasstheit. Die Soziobiologie ist durch Radikalisierung der genselektionistischen Betrachtungsweise aus der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie) hervorgegangen. Sowohl klassische Ethologie als auch Soziobiologie gehen von der Grundvorstellung aus, dass nicht nur die organische Ausstattung der Lebewesen durch Selektionsdrücke im Verlaufe der Stammesgeschichte im Sinne ökologischer Anpassung geformt worden ist, sondern auch deren Verhalten. Unterschiedliche

Verhaltensweisen haben unterschiedlichen Anpassungswert, das heisst tragen in unterschiedlichem Mass zu Selbsterhaltung und Fortpflanzungserfolg eines Individuums bei.
In der klassischen Ethologie ging es vor allem darum, natürliches Verhalten (und das heisst in vielen Fällen sehr komplexes Verhalten) in natürlichen Lebensräumen zu beobachteten und unter evolutionsbiologischen Gesichtspunkten zu beschreiben, obwohl auch hier schon Experimente zum Einsatz kamen (vor allem Isolationsexperimente mit Neugeborenen und systematisches Variieren von Reizkonfigurationen zur Aufklärung Angeborener Auslösemachanismen und Erbkoordinationen, vgl. unten).

Im Gegensatz zur Soziobiologie wurde bei der Deutung des Beobachtungsmaterials noch mit der Vorstellung der Arterhaltung gearbeitet. Man versuchte Verhaltensweisen, die keinen Vorteil für das Individuum erkennen liessen, als Mittel des übergeordneten Ziels der Arterhaltung zu interpretieren. Neben dem Individuum und den Genen, deren Träger und materiale Umsetzung es ist, galt in dieser Sicht auch die Art als Einheit der Selektion.

Im Gegensatz dazu wird in der Soziobiologie noch mehr mit Laborexperimenten gearbeitet und vor allem aber wird oft versucht, mathematische Modelle zu entwerfen, die unter möglichst sparsamen Annahmen das beobachtete Verhalten in seinen wesentlichen Zügen abzubilden vermögen. Es werden Differentialgleichungssysteme und spieltheoretische Ansätze herangezogen.

Dabei wird Verhalten als Strategienwahl und als Optimierungsprozess im Sinne einer Kosten- Nutzen-Rechnung verstanden. Diese ökonomistische Perspektive geht von der Annahme aus, dass jene Verhaltensweisen sich unter Selektionsdruck in einer Population erhalten, die im Vergleich mit anderen sparsamer sind, das heisst mit weniger Aufwand gleich viele fortpflanzungsfähige Träger des eigenen Erbgutes in der nächsten Generation zu erzeugen
vermögen.

Eine Nebenbemerkung zur verbreiteten Kritik am soziobiologischen Ansatz: Die Modelle der Soziobiologie mit ihrer Fitnessbuchhaltung bieten kein sehr romantisches Bild von Tieren, weshalb sie von vielen Tierliebhabern, die ‚’ Tiere gewissermassen als bessere Menschen sehen möchten, nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen wurde. Im Hinblick auf den Menschen wurde und wird sie aber vor allem von Leuten abgelehnt, die im Sinne politischer Fortschrittsideale den Menschen als ein Wesen sehen möchten, das (fast) beliebig durch Milieu und Erziehung geformt und verbessert werden kann. Sie sehen die Soziobiologie als ein Denkmodell, das politischem Konservatismus nahe steht und zuarbeitet.

Diese zumeist oberflächlichen Rundumschläge verkennen allerdings, dass die Soziobiologie die weiten Verhaltensspielräume des Kulturwesens Mensch nicht leugnet, sondern ganz im Gegenteil sie als Spezifikum des menschlichen Verhaltensrepertoires erkennt und deren stammesgeschichtliche Entstehung und Nutzen zu verstehen versucht. Wird menschliches Verhalten aber als stammesgeschichtlich gewachsene Anpassungsleistung unter den Selektionsdrücken einer Abfolge bestimmter ökologischer Lebensverhältnisse verstanden, so zeigt sich, dass im menschlichen Verhaltensrepertoire zwar nur noch wenige bewusstseinsfrei ablaufende Verhaltenszwänge bestehen, dass aber sehr wohl genetisch gestützte Verhaltensneigungen da sind, die einer erzieherischen Umformung unterschiedlich starke
Widerstände entgegensetzen – mehr dazu aber weiter unten.

Was ist Verhalten aus Sicht der Verhaltensbiologie?
Bevor die verschiedenen Formen von Sozialverhalten und sozialer Organisation bei Tieren thematisiert werden, sollen einige allgemeine Konzepte der Verhaltensbiologie bereitgestellt werden, die auch bei der Betrachtung von Sozialverhalten bedeutsam sind.

Definition: Unter Verhalten versteht man in der Verhaltensbiologie „ Kontrolle und Ausübung von Bewegungen oder Signalen, mit denen ein Organismus mit Artgenossen oder anderen Komponenten seiner belebten und unbelebten Umwelt inteagiert" (Kappeler 2006, S. 5)

Verhalten wird in der Verhaltensbiologie auf vier analytisch gut unterscheidbaren Ebenen untersucht und erklärt:

Proximate Ursachen (Wirkursachen): Welche internen und externen Faktoren veranlassen ein bestimmtes Verhalten und welches sind die im Organismus wirksamen psychischen und organischen, insbesondere neuronalen Mechanismen, die das Verhalten ermöglichen und steuern?
Ontogenese (Lebensgeschichtliche Entwicklung): Wie entwickelt sich eine Verhaltensweise im Lebenslauf eines Individuums? Welche inneren und äusseren Faktoren beeinflussen die Entwicklung eines Verhaltens? Wie wirken genetische Faktoren, organische Reifungsprozesse und externe Reizangebote zusammen?
Ultimate Ursachen (Zweckursachen): Was ist der Anpassungswert eines Verhaltens?
Was trägt eine bestimmte Verhaltensweise zum Überlebens- und Fortpflanzungserfolg eines Individuums bei? Was macht eine Verhaltensweise gegenüber Alternativen evolutionär stabil?
Phylogenese (Stammesgeschichtliche Entwicklung): Wie ist eine Verhaltensweise im Laufe der Stammesgeschichte einer Art entstanden? Welches könnten die – lebbaren! – Zwischenstufen dieser Entwicklung gewesen sein? Welche Verhaltensweisen bei verwandten Arten haben dieselbe stammesgeschichtliche Wurzel (Homologien) und welche ähnlichen Verhaltensweisen bei nichtverwandten Arten sind unabhängige, aber gestalt- und funktionskonvergente Entwicklungen unter ähnlichen Selektionsdrücken (Analogien)?

Zur Veranschaulichung seien die entsprechenden Antworten auf die Frage „ singt ein Amselmännchen?" gegeben:
Proximate Ursache: Das Amselmännchen singt, weil seine Larynxmuskulatur durch daran ansetzende Motoneurone aktiviert wird oder es singt, weil es im Frühling einen besonders hohen Testosteronspiegel hat.
Ontogenetische Ursache: Das Amselmännchen singt so wie es singt, weil es diese Gesangsstrophen als Jungtier während einer sensiblen Phase von einem männlichen Artgenossen gelernt hat. Ultimate Ursachen: Das Amselmännchen singt, weil es damit paarungsbereite Weibchen anlocken und Rivalen aus seinem Territorium fernhalten kann.
Phylogenetische Ursachen: Das Amselmännchen singt, weil es von Singvögeln abstammt, deren Männchen gesungen haben.

Arteigenes Verhalten
Eine der wichtigsten Grundbeobachtungen der Verhaltensbiologie besteht darin, dass sich das Verhalten eines Tieres aus Verhaltenselementen zusammensetzt, die immer wieder in ähnlicher Form gezeigt werden und die für eine Art, eine Population oder ein Individuum charakteristisch sind. Erst diese Tatsache, dass sich auch komplizierte Verhaltensabläufe aus ziemlich formkonstanten, immer wieder wiederholten Elementen zusammensetzen, ermöglicht erst eine wissenschaftliche Erfassung.

Die Menge der unterscheidbaren Verhaltensweisen einer Art wird Verhaltensrepertoire der Art genannt, wobei nicht alle Teilpopulationen und Individuen einer Art das ganze Verhaltensrepertoire zeigen müssen. Wichtig für ein vertieftes Verständnis von Verhalten ist aber nicht nur die Kenntnis der einzelnen unterscheidbaren Verhaltenselemente, sondern auch die Häufigkeitsverteilung und die Abfolge der Elemente in Abhängigkeit von Lebensalter, Geschlecht, Körperzustand, Jahreszeit, Tageszeit sowie sozialen und ökologischen Randbedingungen.

Die Aufzeichnung der genauen zeitlichen Abfolgen von Verhaltensweisen wird Ethogramm genannt. Wie stark sich die Ethogramme zwischen Individuen einer Art unterscheiden, hängt neben der Variabilität der ökologischen Faktoren der besiedelten Lebensräume auch stark von der Lernbereitschaft und Lernfähigkeit der Individuen und der Fähigkeit zur Traditionsbildung der Gruppen ab.

Angepasstheit und Eignung (Fitness)
Das letztlich entscheidende Mass für die Angepasstheit von Lebewesen an ihre Umwelt ist die relative Häufigkeit der eigenen Gene im Genbestand der nachfolgenden Generationen. Das Vermögen eines Lebewesens, für den Fortbestand seiner Gene zu sorgen, wird seit Darwin Fitness oder eingedeutscht Eignung genannt.

Die Chromosomen enthalten die Baupläne der Lebewesen und sie sind das einzige, was bei Verschmelzung der Keimzellen physisch an die Nachkommen weitergegeben wird.1 Wie gut diese Weitergabe einem Tier gelingt, hängt aber stark von dessen Verhalten ab.
Um sich vermehren zu können, muss ein Lebewesen mit seinem Verhalten zunächst für das eigene Überleben sorgen. Dann kann es sich um eigenen Nachwuchs bemühen (direkte Eignung) oder aber Verwandten bei der Aufzucht ihres Nachwuchses helfen (indirekte Eignung). Die Summe aus direkter und indirekter Eignung ergibt die Gesamteignung (inclusive fitness). Mit Verwandten teilt ein Tier einen Teil seiner Gene und zwar einen Anteil, der statistisch vom Verwandtschaftsgrad abhängt.

Mit den Eltern und den eigenen Kindern teilt ein Tier genau die Hälfte der Gene (bei Diploidie), mit Geschwistern durchschnittlich ein Viertel, mit Nichten und Neffen ein Achtel, mit Cousins und Cousinen ein Sechzehntel usw. Eine bestimmte Menge an Aufwand, der für Nichten oder Neffen betrieben wird, trägt also statistisch ein Viertel so viel zur eigenen Eignung bei, wie der 1 Dass die Eltern und Verwandten je nach Art – bei Säugetieren insbesondere die Mutter während der Schwangerschaft – dem Jungtier sehr unterschiedlich viel Nährstoffe und Energie zur Entwicklung zur Verfügung stellen, ändert nichts an der Tatsache, dass eine Art, die sich sexuell fortpflanzt, in jeder Generation physisch durch das ‚’ der Reduktion auf Keimzellen geht (Keimbahn). gleiche Aufwand für eigene Kinder.

Es gibt (Lebens-)Zeiten, zu denen ein Tier nicht in eigene Nachkommen investieren kann, sei es, weil es noch zu jung oder schon zu alt ist, sei es, weil die eigene Sozietät nur Vermehrung der Hochrangigen zulässt, sei es, weil kein Territorium erobert oder kein Geschlechtspartner gefunden werden konnte usw. In all diesen Fällen kann es sich für ein Tier lohnen, sich an der Aufzucht von Verwandten zu beteiligen (Verwandtenaltruismus). In solchen Situationen gilt es abzuwägen, ob es sich eher lohnt, in die Vorbereitung künftigen eigenen Nachwuchses zu investieren, oder aber in gegenwärtige Verwandte.

Natürlich fängt ein Tier nicht zu rechnen an, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Die Herausforderung für die Soziobiologie besteht in solchen Fällen darin, die proximaten Mechanismen zu finden, die die – zumeist bewusstseinsfrei ablaufende – Entscheidungsfindung steuern. Ferner gilt es abzuschätzen, ob die gewählten Verhaltensstrategien gegenüber Alternativen, die sich bei anderen Individuen beobachten lassen, mehr Eignung erzeugen oder aber suboptimal sind – zumindest in der gegebenen Situation.
Neben dem Verwandtenaltruismus gibt es auch sogenannten reziproken Altruismus zwischen nichtverwandten Tieren.

Diese Erscheinung gibt es vor allem bei Tieren, die in grösseren, aber dauerhaften Sozietäten zusammenleben, in denen nicht alle miteinander näher verwandt sind. So helfen sich beispielsweise Vampirfledermäuse, die schon nach einem Tag verhungern, wenn sie in der Nacht kein Blut haben saugen können, wechselseitig aus, indem die erfolgreichen Jäger einen Teil ihrer Nahrung erbrechen und damit die Erfolglosen füttern, und zwar unabhängig vom Verwandtschaftsgrad. Bei Graufischern (einer Eisvogelart) gibt es nichtverwandte Bruthelfer. Das sind junge Männchen, die noch kein eigenes Brutterritorium haben erobern können und die nun einem nichtverwandten Brutpaar bei der Aufzucht ihrer Jungen helfen. Der Vorteil für sie liegt darin, dass sie fast immer die Erben dieses Territoriums – und auch oft des Weibchens – werden, wenn über den nächsten Winter der Territoriumsinhaber stirbt, was bei dieser
kurzlebigen Art oft der Fall ist.

Das heisst es handelt sich nicht um echte Selbstlosigkeit im Sinne des Verlustes von Eignung, was dann das wäre, was echter Altruismus, genetischer Altruismus oder Fitness-Altruismus genannt wird. Hilfsbereitschaft gegenüber Nichtverwandten kann nur dann als fester Bestandteil des Verhaltensrepertoires entstehen, wenn aufgrund der (proximaten) Mechanismen, die das Verhalten der Beteiligten steuern, gewährleistet ist, dass im Durchschnitt das gebende Tier oder seine Verwandten in der Zukunft vom Hilfe empfangenden Tier oder seinen Verwandten wieder ungefähr gleich viel zurückerhält. Wenn eine Verhaltensweise von Trittbrettfahrern, die sich und die eigenen Verwandten bevorzugen, unterlaufen werden kann, dann wird dieses Verhalten wieder verschwinden, es ist dann keine Evolutionär Stabile Strategie (abgekürzt ESS, einer der Leitbegriffe der Soziobiologie).

Da Umwelten nie unveränderlich sind, sondern immer auch (Zufalls-)Schwankungen aufweisen, kann es keine ideale Anpassung geben. Zudem ist es oft unmöglich, die Anpassung an alle ökologischen Faktoren gleichzeitig zu maximieren. So mag zum Beispiel ein grosses Gewicht in Rivalenkämpfen von Vorteil sein, ein grosser Körper braucht aber auch mehr Nahrung für den Unterhalt und wird von Fressfeinden leichter entdeckt.

Angepasstheit ist immer relative Angepasstheit in dem Sinne, dass sich ein Einzeltier nur in Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Artgenossen, Feinden und abiotischen Herausforderungen zu bewähren hat und eine Art nur in Auseinandersetzung mit den stammesgeschichtlich je gegenwärtigen anderen Arten und ökologischen Bedingungen. So müssen beispielsweise heutige Grossstadtbewohner in Europa nicht mehr Hunger aushalten können, dafür aber erhöhten innerartliche Rangkonkurrenz und Dichtestress. Oder eine Urfledermaus von vor 50 Millionen Jahren würde angesichts heutiger Nachtfalter wahrscheinlich verhungern, weil diese im Zuge einer Koevolution gelernt haben, mit chaotischen Schwirrflügen vor Fledermäusen zu fliehen, die mit ihrem heute hochdifferenzierten Echolotsystem Jagd auf sie machen.

Was die Makroevolution von Organen und Verhaltensweisen anlangt, d.h. die Veränderung von Grundbauplänen, so gilt es zu bedenken, dass alle Zwischenstufen gradueller Veränderung in ihrer jeweiligen Umwelt überlebensfähig sein müssen.

Die besten Voraussetzungen für Makroevolution sind gegeben, wenn ökologische Drücke nachlassen, die ein bestimmtes Verhalten oder Organ gestaltet haben. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn das Klima milder wird und sich damit die Ernährungslage entspannt, oder weil Fressfeinde oder konkurrierende Arten selten werden oder gar aussterben, oder weil ökologisch begünstigende Arten sich neu entwickeln.

Lässt ein Selektionsdruck nach, so können die von ihm getrimmten Organe oder Verhaltensweisen wieder mehr Variabilität zeigen, ohne dass damit ein Eignungsverlust einherginge (Exaptation). Diese Organe und Verhaltensweisen werden gleichsam als Ausgangsmaterial zur Entwicklung neuer biotischer Funktionen frei (Funktionswandel).
Die Angepasstheit von Organen und Verhalten schwankt also mit den Umweltbedingungen, die ein Lebewesen bzw. eine Art zu meistern hat – und sie wird oft überschätzt. Denn sowohl Individuen als auch Arten überstehen längere Phasen suboptimaler Angepasstheit, solange die ungünstigen Wirkungen ein gewisses Mass nicht übersteigen. Das Individuum wird dann längere Zeit geschwächt sein und der Bestand der Art schrumpfen, aber nicht gleich aussterben.
Die höchste Verhaltensflexibilität und damit Anpassungsfähigkeit hat unter allen Tieren der Mensch erlangt, und zwar hauptsächlich aufgrund der quantitativ und qualitativ
herausragenden Leistungsfähigkeit seines Gehirns (vgl. unten).

Formen der Gruppenbildung im Tierreich
In der Tierwelt gibt es unterschiedliche Formen der örtlichen Ansammlung von Tieren der gleichen Art und verschiedener Arten. Je nachdem, ob diese Tiere kooperieren oder nicht, wird von sozialen Gruppen oder Sozietäten (im eigentlichen Sinne) gesprochen, oder aber nur von Tieransammlungen.


Bei der Untersuchung der verschiedenen sozialen Lebensformen lässt sich die Soziobiologie von zwei Fragen leiten:


  1. Welche Anpassungsvorteile kann das Leben in kooperierenden Gruppen gegenüber solitärer Lebensweise allgemein haben?

  2. Welchen Anpassungswert hat eine bestimmte Form sozialer Gruppenorganisation innerhalb einer Art, insbesondere gegenüber anderen möglichen Organisationsformen?
Im Folgenden werden die wichtigsten Typen sozialer Gebilde, die es im Tierreich gibt, kurz skizziert, wobei sie in der Abfolge dargestellt werden, wie sie in der Stammesgeschichte vermutlich entstanden sind. Dabei nehmen insbesondere die kognitiven Voraussetzungen der Gruppenbildung zu.

Biofilme und Bakterienrasen: Durch ständige Zellteilung können Einzeller sich zu dichten Zellverbänden zusammenschliessen und eine feste Unterlage mit einem Film überziehen. Es wird angenommen, dass sich aus solchen Biofilmen, die ja aus genetisch identischen Zellen bestehen, durch funktionale Ausdifferenzierung mehrzellige Lebewesen gebildet haben. So lassen sich auch heutige Vielzeller als hochorganisierte Kolonien genetisch identischer Einzelzellen auffassen und darauf die selektionistischen Modelle der Soziobiologie anwenden. Erst diese Betrachtungsweise ermöglicht es beispielsweise zu verstehen, wie Phagozyten haben stammesgeschichtlich entstehen können, also jene Zellen des Immunsystems, die eingedrungene Mikroorganismen schlucken und dabei selbst kaputt gehen. Wären sie nicht mit den davon profitierenden Körper- und Keimzellen genetisch identisch, wäre dieses Verhalten evolutionär nicht stabil.
Schon in Bakterienrasen ist eine der Voraussetzungen aller weiteren stammesgeschichtlichen Entwicklung von Sozialverhalten gegeben, nämlich die dauerhafte Nähe von Individuen, die aufProf. grund dieser Nähe miteinander zunehmend komplexer interagieren können. Erst mit der Entwicklung von Post, Telefon usw. ist diese Voraussetzung für soziale Interaktion überwunden worden.

Tierstöcke: Verschiedene niedere Tiere bilden Kolonien im Meer und – weit seltener – im Süsswasser. Am bekanntesten sind Korallen. Die Stöcke wachsen zumeist durch Sprossung, also vegetative Vermehrung. Jeder Stock geht auf ein Gründertier zurück, das selbst sexueller Vermehrung entsprungen ist. Die sexuelle Vermehrung von Korallen vollzieht sich durch massenhaften gleichzeitigen Ausstoss von Keimzellen beider Geschlechter ins Wasser, wobei die zeitliche Koordination ganz von äusseren Faktoren (Wassertemperatur, Jahreszeit und Mondphase) abhängt.
Viele niedere Tiere kommen in verschiedenen, nämlich geschlechtlichen und ungeschlechtlichen Gestalten vor, es findet in den Stöcken also bereits eine einfache Form der funktionellen Differenzierung zwischen Individuen statt. Die niederen Tiere sind aber so einfach gebaut, dass die Möglichkeiten ‚ Wahrnehmung’ bei vielen Arten noch ganz auf chemische Wechselwirkungsprozesse eingeschränkt sind. Manchmal kommt es beispielsweise zu einer Massenvermehrung von Quallen, sodass Tier an Tier im Wasser schwimmt. Was auf den ersten Blick wie eine Analogie zu einem Fischschwarm aussieht, ist im Gegensatz zu diesem aber kein soziales Gebilde, denn die Quallen können einander nicht wahrnehmen und entsprechend mit ihrem Verhalten auch nicht wechselseitig aufeinander Bezug nehmen – jede zieht mit ihren Glockenzügen allein in der Weite des Ozeans.

Schwärme: Verschiedene Arten von Insekten (z.B. Heuschrecken), Fischen und Vögeln bilden grosse Schwärme. Die Tiere erkennen einander als Artgenossen, kennen sich aber nicht individuell. Das Sozialverhalten beschränkt sich zumeist darauf, dass die Tiere wechselseitig physische Nähe suchen. Jedes Tier richtet seine Bewegungskoordination an einem arteigenen (niedrigen) Abstandssollwert in Bezug auf seine nächsten Artgenossen aus, wodurch im Aggregat der Schwarm entsteht. Komplexere Interaktion als diese Abstandsregulation gibt es zwischen den Tieren meistens nicht.

Insektenstaaten: Gewisse Arten von Hautflüglern (Bienen, Ameisen) bilden grosse Staaten mit straffer Arbeitsteilung zwischen verschiednen Kasten steriler Arbeiterinnen, einer Königin, die zumeist keine andere Funktion hat, als Eier zu legen und Männchen, die manchmal nur Geschlechtsfunktion haben, manchmal aber auch ähnlich wie Arbeiterinnen spezifische Aufgaben übernehmen (Termiten). Die Mitglieder eines Insektenvolks erkennen einander nicht nur als Artgenossen, sondern als ‚’ aber nicht individuell. Fremde werden heftig bekämpft und vertrieben. Die Männchen dieser Insekten entspringen ungeschlechtlicher Vermehrung und sind haploid, d.h. tragen nur einen einfachen Chromosomensatz, den sie ganz ihren Nachkommen, den Arbeiterinnen mitgeben. Die Arbeiterinnen teilen daher untereinander durchschnittlich ¾ ihrer Gene, sind also untereinander näher verwandt, als ihnen eigene Kinder verwandt wären. Darin wird der Hauptgrund dafür gesehen, dass sich der Verzicht auf eigene Nachkommen überhaupt als evolutionär stabile Strategie hat herausbilden können, denn die Arbeiterinnen tun mehr für ihre ‚ Gene’ wenn sie ihrer Mutter bei der Aufzucht von ¾ verwandten Geschwistern helfen, als wenn sie eigene Junge aufziehen.

Vögel: Einige Vogelarten bilden Brutkolonien. In den Steilwänden von Brutfelsen am Meer brüten oft Kolonien mehrer Arten auf engem Raum, da gut geschützte Felssimse knapp sind. Bei Seevögeln erkennen einander die Nachbarn individuell, die Mitglieder der übrigen Kolonie aber nur als Artgenossen. Die meisten, vor allem kleineren, kurzlebigen Vogelarten brüten in Einzelpaaren, die nur für eine Brutsaison zusammenbleiben. Zwischen den Brutzeiten schrumpfen bei den meisten Singvögeln die Geschlechtsdrüsen so stark, dass sie in dieser Zeit praktisch geschlechtsneutrale Wesen sind und in dieser Zeit meistens auch ein anderes Sozialverhalten zeigen, z.B. Schwärme bilden. Einige grössere Vogelarten mit grösserer Lebenserwartung, wie zum Beispiel Graugänse, Kolkraben und Albatrosse bilden monogame Paare, die sich ein Leben lang Prof. H. Geser: Seminar ‚ sozialer Evolution’ / Matthias Näf 7 treu bleiben und ein grosses Repertoire an sozialen Verhaltensweisen zeigen, insbesondere zur Bezeugung und damit Festigung der Paarbeziehung.

Säugetiere: Die komplexesten Sozietäten finden sich bei Säugetieren, insbesondere bei Primaten und schliesslich beim Menschen. Bei den grösseren sozialen Säugetieren kennen sich alle Mitglieder der – zumeist kleinen – Sozietät persönlich. Was die kognitiven Fähigkeiten anlangt, die der sozialen Organisation zugrundeliegen, so haben Primaten eine neue Komplexitätsstufe erreicht, indem sie nämlich nicht nur ihre eigenen Beziehungen kennen, sondern auch die Beziehungen zwischen anderen Gruppenmitgliedern und diese nach Beziehungskategorien wie ‚ mit eigenem Kind’ im Gegensatz zu ‚ mit fremdem Jungtier’ einteilen können, wie in Versuchen mit Makaken hat gezeigt werden können, denen entsprechende Photographien vorgelegt wurden (Kummer 1975). Ähnlich hohe sozialkognitive Fähigkeiten lassen sich allenfalls noch bei Elefanten und Walen finden.

Der Mensch ist dadurch ausgezeichnet, dass er in Abhängigkeit ökologischer Randbedingungen unter allen Tieren mit Abstand die grösste Vielfalt an sozialen Organisationsformen hervorzubringen und kulturell zu stabilisieren vermag. Dies gilt sowohl für die kleinen sozialen Einheiten (Monogamie, Polygynie, Polyandrie, serielle Partnerschaft, Gruppenehe usw.), als auch für die grösseren Einheiten (Sippe, Stamm, formale Organisation, Staatsgesellschaft usw.). Es findet eine ständige Koevolution zwischen technischer Kultur, mit deren Hilfe Menschen ihre ökologischen Randbedingungen verändern, und den sozialen Organisationsformen statt, mit denen sich die Menschen an die von ihnen selbst veränderte Umwelt anpassen.

Tieransammlungen: An Orten, wo eine für viele Tierarten wichtige Ressource konzentriert vorhanden ist, können sich viele Individuen verschiedener Arten auf engem Raum zusammenfinden, z.B. an Wasserlöchern in trockenen Gebieten oder an mineralienreichen Felsabbrüchen in Regenwäldern oder die Wasservogelansammlungen auf Seen im Winter. Schlafplätze, Überwinterungsplätze und Nistplätze können ebenfalls knapp sein, sodass dann an geeigneten Stellen sich viele Individuen einer Art zusammenfinden können, obwohl sie dabei kaum kooperieren. In diesen Fällen werden Tiere allein durch äussere Faktoren an einem Ort zusammengebracht. Daneben gibt es aber auch koevolutiv stabilisierte Kooperation zwischen Tieren verschiedener Arten, sogenannte Symbiosen. In diesen Sozialgebilden profitieren die beteiligten Tiere beider Arten im Sinne der Steigerung ihrer Eignung – dies im Gegensatz zu Parasitismus, bei dem nur die eine Seite profitiert, die andere sich aber (noch) nicht gegen das Ausgenütztwerden zu wehren vermag.

In den nächsten drei Abschnitten wird nun noch näher auf verschiedene Aspekte des (Sozial-)Verhaltens des Menschen eingegangen.

Ontogenese – Zusammenhang zwischen Vererbung und Erfahrung
Die wohl wichtigste Frage der frühen Verhaltensforschung war das Verhältnis von angeborenen und erlernten Verhaltenselementen. Den Ausgangspunkt bildete die Beobachtung, dass die Jungtiere gewisser Tierarten gewisse für ihr Überleben wichtige Umweltsituationen ohne vorherige Erfahrung erkennen und darauf mit einem angepassten, das heisst überlebensförderlichen Verhalten reagieren. So picken Hühnerküken gleich nach dem Schlüpfen, also vor jeder Lernmöglichkeit zielgerichtet nach Nahrungsteilchen, und zwar nach geniessbaren und sie fliehen unter die Fittiche ihrer Mutter oder in ein Versteck, wenn über ihnen der Umriss eines fliegenden Habichts – oder im Versuch auch nur eine grobe Attrappe – vorüberzieht. Stammesgeschichtlich erworbene Erfahrung ist also derart in die organische, insbesondere neuronale Ausstattung der Küken eingeschrieben, dass sie mit fertigen Verhaltensprogrammen zur Welt kommen.

Die zur Deutung solchen Instinktverhaltens entwickelten Konzepte waren Schlüsselreiz, Angeborener Auslösemechanismus (AAM) und Erbkoordination: Beobachtet wurde, dass auf bestimmte ReizkonfiProf. Hgurationen ohne vorgängige Lernmöglichkeit von Jungtieren mit einem vorhersagbaren Verhalten reagiert wird (starres Reiz-Reaktionsmuster), postuliert wurde folglich, dass das Nervensystem mit angeborenen Programmen2 ausgestattet sein muss, die diese überlebensadäquate Wahrnehmung bestimmter Umweltsituationen und die dazugehörigen, immer gleichgestaltigen Bewegungen ermöglichen und steuern (das, was der Behaviorismus als ‚ Box’ ausklammerte).

Die Neurowissenschaften sind dabei, diese von der klassischen Ethologie rein hypothetisch postulierten Zusammenhänge aufzuklären, wobei sich die Verschränkung von Vererbung und Lernen bei der Reifung des Gehirns und der Reifung des Verhaltens in der Ontogenese als viel komplizierter herausstellt, als ursprünglich angenommen.

Wichtig im Hinblick auf menschliches Verhalten ist die Feststellung, dass ein Verhalten nicht entweder vererbt oder durch Lernen erworben ist. Vielmehr besteht ein Kontinuum zwischen dem einen Extrem weitgehend erblich fixierter Verhaltenselemente (Reflexe) und dem anderen Extrem von Verhaltensinnovation als Ergebnis einsichtsvollen Nachdenkens und freien Willens. Dazwischen liegt ein weiter Bereich von Verhaltensweisen, die auszubilden und durch Sammeln von Erfahrung und Üben zu verfeinern ein ererbter innerer Drang besteht, wobei sich diese Verhaltensreifungen beim Menschen an kulturell vorgegebenen Mustern ausrichten.

Weil in der Zwischenzeit erkannt worden ist, dass selbst die neuronalen Verschaltungen, die Reflexe steuern, durch die Art und Häufigkeit ihrer Betätigung adaptiv verändert werden, ist der Instinktbegriff der klassischen Ethologie, der erblich (weitgehend) fixiertes Verhalten meinte, aufgegeben worden. Wichtig ist aber eine Verallgemeinerung des Instinktkonzeptes geblieben (das allerdings nicht mehr so genannt wird), nämlich die Frage, welche für ein Tier wahrnehmbaren Reize bzw. Reizkonfigurationen dessen Aufmerksamkeit binden und in ihm den Drang erzeugen, mit einem gerichteten Verhalten darauf zu reagieren, also nicht gleichgültig zu bleiben und die Aufmerksamkeit nicht wieder anderen Dingen zuzuwenden.

In dieser Hinsicht ist der Mensch dadurch ausgezeichnet, dass er dasjenige Tier ist, das auf die grösste Vielfalt von Reizkonfigurationen sich motiviert fühlt, mit gerichtetem Verhalten Bezug zu nehmen. Kein Tier reagiert auf so viele Reize wie der Mensch. Dieser Überschuss an Aufmerksamkeit für seine Umwelt im Vergleich zu anderen höheren Tieren zeigt sich vor allem in lebenslänglichem Neugierverhalten und Spiel. Selbstverständlich streut die Neugierde und die Bereitschaft zu spielerischem Ausprobieren von Neuem stark zwischen verschiedenen Menschen und nimmt bei den meisten Personen mit dem Alter ab. Aber sowohl das mittlere Niveau an Neugierverhalten als auch die individuellen Spitzen lebenslangen Experimentierens, Forschens und Lernens übertreffen bei Weitem die entsprechenden Phänomene selbst bei Menschenaffen.

Funktionskreise menschlichen Verhaltens
Die vielen Verhaltensweisen, die Lebewesen und somit auch Menschen zeigen, können als Antwort auf bestimmte innere und äussere Herausforderungen verstanden werden. Jedes Verhalten lässt sich so einem bestimmten ‚’ zuordnen, einem Funktionskreis wie man in der Ethologie sagt. Die folgende Graphik zeigt die wichtigsten Antriebsthematiken des Menschen. 2 Der in der klassischen Ethologie übliche Ausdruck ‚’ wird heute in der Verhaltensbiologie kaum noch gebraucht, sondern durch kompliziertere Umschreibungen ersetzt, die den verfeinerten Erkenntnissen über neuronale Reifungsvorgänge entsprechen.

Die Fitness oder Eignung ist das letzte Ziel, woraufhin die Verhaltensweisen von Lebeswesen hingeordnet sind. (Selbstverständlich gab und gibt es bei allen Arten immer wieder Individuen, die sich nicht um Nachkommenschaft bemühten bzw. bemühen. Diese geben dann aber ihre Gene nicht (direkt) weiter, insbesondere nicht die Gene, die diese Fortpflanzungsfaulheit begünstigen. Wenn sie allerdings statt eigenen Nachwuchses kulturelle Innovationen hervorbringen, dann werden sie damit auch ihren eigenen Verwandten nützen und somit indirekte Eignung für sich verbuchen können.) Damit ein Tier sich vermehren kann, muss es sich selbst am Leben erhalten – daher sie zwei getrennten grossen Blöcke. Alle aufgezeigten Thematiken kommen nicht nur beim Menschen, sondern auch bei anderen höheren Lebewesen vor, wobei der Themenblock ‚’ die grössten qualitativen Unterschiede zwischen Mensch und übrigen Tieren aufweist.

Die Verwirklichung dieser durch die Biologie vorgegebenen Thematiken beim Menschen unterscheidet sich in einigen Punkten erheblich von derjenigen bei anderen höheren Tieren: Menschen haben eine kulturelle Vielfalt entwickelt, die auch diejenige der Menschenaffen bei weitem übersteigt. Die funktionell äquivalenten Verhaltensweisen, die zu jeder der genannten Thematiken gehören, haben beim Menschen in Auseinandersetzung mit den jeweiligen lokalen ökologischen Randbedingungen viele verschiedene kulturelle Ausprägungen erfahren: Diese kulturellen Ausformungen der biotisch nötigen Verhaltensweisen variieren zwischen den Teilpopulationen des Menschen so stark wie bei keiner anderen Tierart.

Zudem gibt es für fast alle diese Tätigkeitsfelder anerkannte soziale und nichtsoziale alternative Formen des Handelns, nämlich Formen der Hilfe, der Arbeitsteilung mit spezialisierten Rollen und des geselligen Verrichtens einer Tätigkeit mit gleichen Rollen oder aber Formen des Alleinemachens. Die kulturelle Vielfalt kommt insbesondere durch individuelles Lernen und daran anschliessende Traditionsbildung zustande: Wie schon oben erwähnt sind Menschen ein Leben lang neugierig und spielfreudig, wodurch sie ihr Handlungsvermögen und ihren sozialen, thematischen und geographischen Aktionsradius erweitern (in der Abbildung oben Selbsterweitung genannt). Individuelles Lernen dient zunächst der (Fein-)Anpassung jeder einzelnen Person an ihre Lebensumstände. Einzelne Individuen finden aber auch für bestimmte lebenspraktische Probleme besonders geeignete Lösungen, die von anderen Individuen durch Nachahmung und Vorzeigen übernommen und nach und nach fester Bestandteil des Verhaltensrepertoires der Teilpopulation werden, das heisst fortwährend den heranwachsenden Kindern mittels Erziehung weitervermittelt werden (Traditionsbildung).
Im folgenden Abschnitt sollen die wichtigsten Ereignisse der Evolutionsgeschichte des Menschen dargestellt werden, die diese vergleichsweise riesigen Verhaltensspielräume erst ermöglicht haben.

Hominisation und die Kulturfähigkeit des Menschen
Um das Sozialverhalten des modernen Menschen besser verstehen zu können, lohnt es sich, jene Besonderheiten seiner Evolutionsgeschichte zu vergegenwärtigen, die dessen Kulturfähigkeit begründen. Nach heutigem anthropologischem Wissenstand hat die Menschwerdung (Hominisation) in Afrika stattgefunden, und zwar in zwei Phasen ökologisch sehr unterschiedlicher Lebensraumbedingungen. Bis vor etwa vier Millionen Jahren waren unsere Vorfahren weitgehend auf Bäumen lebende Primaten tropischer Regenwälder. Danach wurde das Klima langsam trockener und der Lebensraum wurde zur immer offeneren Baumsavanne.

Dieser Abfolge sehr unterschiedlicher Selektionsdrücke dürfte sich die besondere anatomische Ausstattung des Menschen verdanken, aus der durch Funktionswechsel das heutige Kulturwesen hat entstehen können. Die Augen des Menschen sind parallel ausgerichtet und erlauben damit Tiefenschärfe. Dies dürfte ein Erbe aus der Zeit des Lebens auf Bäumen sein, denn bei Fortbewegung im Geäst ist es überlebenswichtig, Abstände genau abzuschätzen zu können.

Die parallele Augenstellung ist aber auch eine der unverzichtbaren Voraussetzungen für die Entwicklung einer handwerklichen Kultur, da es nur so möglich ist, Gegenstände, die in die Hände genommen werden, sehr genau zu fokussieren und fein zu bearbeiten.
Die langen, wendigen Arme mit weitem Ausgreifwinkel dank nach hinten, zur Wirbelsäule gedrehten Schulterblättern und die Greifhände des Menschen mit ihren langen Fingern, Kuppennägeln und freien Fingerkuppen, dem allen anderen Fingern gegenüberstellbaren Daumen, der hohen Haftfestigkeit dank Hautleisten (Dermatoglyphia) und Haftschweisssekretion und dem sehr feinen Tastsinn dank dichter Innervation sind ein Erbe des Lebens auf Bäumen als Klettrer – alles Eigenschaften, die die Entwicklung einer Handwerkskultur erleichtert haben. Schon bei Primaten haben die Hände eine Funktionserweiterung erfahren, da sie auch zum Nahrungserwerb, zur eigenen und sozialen Körperpflege, zum Halten und Betreuen von Jungen, beim Nestbau, beim Transport von Gegenständen und bei der einfachen Werkzeugbenutzung eingesetzt werden.
Der aufrechte Gang ist wahrscheinlich in offenen Savannenlandschaften entstanden. Aufrechter Gang erlaubt bessere Übersicht über das Gelände, das heisst früheres Erspähen von Fressfeinden und schnellere Flucht. Vor allem aber wurden die Hände frei. So konnte insbesondere Jagdbeute schnell in Sicherheit getragen werden, bevor sie von grösseren Raubtieren abspenstig gemacht werden konnte. Werkzeuggebrauch konnte stark erweitert und verfeinert werden, vor allem aber konnten Werkzeuge, Waffen und insbesondere Fackeln mitgetragen werden – was auch eine Voraussetzung für die Entstehung des sozialen Phänomens des Eigentums ist.

Im Prozess der Menschwerdung sind die Eckzähne immer kleiner geworden und der Mund verlor seine vorspringende Schnauzenform. Diese Entwicklung dürfte damit zusammenhängen, dass Eckzähne als Waffe gegen Raubfeinde dank Ersatz durch hergestellte Waffen (Speere, Fackeln usw.) und als ‚’ zur Zerkleinerung von Nahrung dank Ersatz durch Steinklingen und Kochen nicht mehr nötig waren. Diese Umgestaltungen sind aber eine anatomische Voraussetzung für die differenzierte Lautsprache des Menschen, denn viele Laute heutiger Sprachen könnten mit der Zahnlücke im Unterkiefer, die mit grossen Eckzähnen verbunden ist, nicht gebildet werden. Aber all diese Entwicklungen gewannen ihren vollen Wert erst in Verbindung mit der rasanten Entwicklung des Gehirns, dessen Gewicht in vier Millionen Jahren von etwa 400 g bei Australopithecinen auf 1200-1400 g beim modernen Menschen anwuchs.
Die für die Kulturentwicklung des Menschen wohl wichtigste Leistung des Gehirns ist die sogenannte geistige Probebühne: Menschen können nicht nur die unmittelbar sinnlich gegebene Welt und Erinnerungen in ihrem Bewusstsein vergegenwärtigen, sondern in ihrer Vorstellung auch Gegenentwürfe zur erfahrenen Wirklichkeit machen, und zwar unabhängig von ihrer je gegenwärtigen Bedürfnislage.

Insbesondere kann ein Mensch sich in seiner Vorstellung von sich selbst distanzieren und sich vor dem inneren Auge als Mensch unter anderen Menschen sehen. Diese Dezentrierungsfähigkeit ist einerseits die Grundlage für die Einfühlung in andere Menschen (Perspektivenübernahme und Empathie) und somit auch eine der wichtigsten Voraussetzungen für komplexes Sozialverhalten. Andererseits ermöglicht die Fähigkeit zur geistigen Distanzierung von sich als gegenwärtiger Person mit gegenwärtigen Bedürfnissen Selbstentwürfe in die Zukunft hinein: Menschen entwerfen mit dieser Fähigkeit einerseits gezieltes Handeln in der Gegenwart, also unmittelbar bevorstehende Handlungen – im Gegensatz zu einsichtslosem Versuchsverhalten, das sich durch ständige Beobachtung der Handlungsergebnisse langsam zum Ziel tastet.

Aber Menschen machen auch langfristige Zukunftspläne für sich selbst und ordnen dann ihr gegenwärtiges Handeln diesen langfristigen Zielen unter, was Verzicht auf gegenwärtige Annehmlichkeiten zu Gunsten künftiger Belohnung bedeuten kann (Belohnungsaufschub) – und diese Leistung des menschlichen Gehirns bzw. seiner Psyche ist wohl die wichtigste Grundlage für die Entwicklung der immer komplexeren menschlichen Kulturen und sozialen Gebilde. Von daher kann nun auch die herausragende Stellung der Lautsprache unter den Kommunikationskanälen verstanden werden: Im Gegensatz zu allen anderen – urtümlicheren – Kommunikationskanälen, die der Mensch sehr wohl auch noch nutzt, hat die Lautsprache den Vorteil, dass sie eine schier unbegrenzte Differenzierung des Mitteilungspotentials durch Ausweitung des Zeichenbestandes und komplexen Satzbau und eine sehr schnelle Abfolge von Zeichen während des Kommunikationsvorganges zulässt und nicht auf Berührung der Kommunizierenden angewiesen ist.

Mit taktilen Reizen, Gerüchen, Geschmäcken und optischen Signalen, liesse sich das alles nicht verwirklichen. Diese haben beim Menschen vor allem noch die Funktion emotionaler und allgemeiner sozialer Mitteilung, nämlich von Stimmungen, Sympathie/Antipathie, Rangansprüchen und Gruppenzugehörigkeiten durch Mimik, Körperhaltung, Berührungen, Kleidung, (offerierte) Speisen, Getränke und Gerüche.

Mittwoch, 23. Mai 2007

Die Erfindung der Individualität

Die Erfindung der Individualität

Buch von Wolfgang Wieser

Vorwort

Wieser untersucht Rolle und Bedeutung der Wechselwirkung von Genotyp und Phänotyp in der Evolution der Organismen. Da kein Zweifel an der Unvererbbarkeit erworbener Eigenschaften besteht, wird der Einfluss der Gene auf die Evolution oft stark überschätzt, insbesondere durch die im Zusammenhang mit Dawkins These des „egoistischen Gens“ entstandenen Darstellungen einer einseitigen Abhängigkeit der Entwicklung des Phänotyps von der Entwicklung der Gene. Der Phänotyp nimmt durch Einschränkungen der möglichen zukünftigen Entwicklungswege infolge der in der Vergangenheit fixierten Ausgangspunkte genauso Einfluss auf die weitere Evolution wie der Genotyp, die Verbote des Phänotyps haben die gleiche Bedeutung wie die Anweisungen des Genotyps für die Entfaltung und Entwicklung des Organismus. Der Organismus ist eben nicht bloß ein Vehikel der Gene, die ihn zum Zweck ihrer eigenen Vermehrung konstruieren, wie dies Dawkins behauptet. Der Organismus liefert mit seiner Entwicklung die Bedingungen für eine „innere Selektion“, bewirkt die An- und Abschaltung der Expression einzelner Gene im Interesse seiner Entwicklung und emanzipiert sich damit im Zuge der Evolution von der Vormundschaft der Gene. Dies mündet am Ende in der kulturellen Evolution und ermöglicht dem Menschen den Anweisungen seiner Gene zu wider zu handeln.

1. Was ist Leben: Ordnungsbegriffe und Modelle

In den abendländischen Wissenschaften kommt es darauf an, von einer Beschreibung der Welt und der Formen des Lebens zu einer Erklärung der Welt und der Evolution des Lebens voran zu schreiten.

1.1. Strukturen und Systeme

Selbstorganisierende Systeme sind dissipative Strukturen im Fließgleichgewicht, die noch kein Leben in sich tragen müssen. Von Leben kann erst gesprochen werden, wenn dissipative Strukturen konservativ werden und von sich heraus die Aufrechterhaltung ihrer Struktur auch gegenüber äußeren Störungen verteidigen.

1.2. Die komplexe Architektur von Lebewesen

Entgegen einer weitverbreiteten Gewohnheit können biologische Systeme zunehmender Komplexität, also etwa Zelle – Organismus – Sozietät, nicht als Manifestation einer hierarchischen Ordnung betrachtet werden. Es existiert in biologischen Systemen keine hierarchische Kommandostruktur, sondern eher eine netzartige Verknüpfung verschiedener Ebenen. Wenn trotzdem von hierarchischer Ordnung gesprochen wird, so kann sich dies nur auf die ineinander Schachtelung der verschiedenen Ebenen beziehen.

Wieser unterscheidet 3 vielfältig miteinander verknüpfte Ebenen des Organisationsaufbaus von Lebewesen:

  • Das Genom mit seinen genetischen Programmen, das in der Ontogenese die Entwicklung der phänotypischen Gestalt bewirkt.
  • Der Phänotyp zeigt Merkmale und Funktionen, welche die Möglichkeiten des Verhaltens gegenüber der Umwelt bestimmen und wirkt zurück auf die Genexpression.
  • Das Verhalten bestimmt die Wechselwirkungen mit der Umwelt, und wirkt zurück auf die Gestalt

Die Rückwirkung der phänotypischen Gestalt auf die Genexpression hat zur Folge, dass es trotz riesiger Vielfalt phänotypischer Gestalten vergleichsweise nur wenige Typen von Bauplänen gibt, die in den verschiedensten Arten und Gattungen immer wieder Verwendung finden.

1.3. Spiele des Lebens

Die Evolution der Organismen beruht generell auf der Selektion des Fittesten. Zunächst wurde dabei der Konkurrenz der Individuen die größte Bedeutung beigemessen. Es zeigte sich jedoch, dass die größten Entwicklungsschübe durch Kooperation von Individuen erzielt wurden. Solche erfolgreichen Zusammenschlüsse zu komplexeren Systemen waren die Vereinigung genetischer Elemente zu Chromosomen, die Vereinigung kleiner einfacher Zellen zu großen komplex aufgebauten, eukaryotischen Zellen, die Vereinigung von Einzelzellen zu Vielzellern und der Zusammenschluss von Individuen zu Sozietäten. Bei jeder dieser Vereinigungen waren die Partner vor die Alternative gestellt, entweder selbständig zu bleiben oder einen Teil ihrer Autonomie aufzugeben. Diese Entscheidungen hatten oft Zufallscharakter, ihre Ergebnisse aber zeigten sich in höherer Überlebenswahrscheinlichkeit und Fitness und sind mit den Methoden der Spieltheorie nachvollziehbar. Die Aufgabe der Autonomie der Teile resultiert aber in einer höheren Autonomie der Kooperationen und ermöglicht letzteren eine weitergehende Emanzipation von den Zwängen der Gene und eine Herausbildung von Individualität.

1.4. Ein Ordnungsprinzip: Drei miteinander verknüpfte Netze

Die drei Ebenen der biologischen Organisation werden als drei miteinander verknüpfte, partiell autonome Netze betrachtet. Durch den Begriff des Netzes wird auf die Existenz von Strukturen hingewiesen, die in jeder Organisationsebene dem Austausch von Information dienen.

  • Das innere Netz repräsentiert die Strukturen und Funktionen, die an der Erhaltung des genetischen Programms beteiligt sind und der Reproduktion der DNA dienen.
  • Das mittlere Netz besteht aus den Strukturen und Funktionen, die für die Übersetzung des genetischen Programms in den Phänotyp erforderlich sind. Es entfaltet sich aus dem inneren Netz, doch der größte Teil seiner Komponenten hat mit der Gestalt und den Leistungen des Phänotyps zu tun.
  • Das äußere Netz wird repräsentiert durch die Verhaltensweisen, die den Phänotyp mit seiner biotischen und abiotischen Umwelt verknüpfen. Seine Leistungsfähigkeit korreliert mit der Entwicklung des Gehirns.

2 Das innere Netz

2.1 Grammatik und Semantik des genetischen Programms

Der genetische Code ist durch die Reihenfolge von 4 unterschiedlichen Nucleotiden in den DNA festgelegt. Je 3 dieser Nukleotide codieren eine bestimmte Aminosäure oder bedeuten ein Abstandssymbol. Die eindeutige Zuordnung eines Nukleotidtripletts zu einer bestimmten der insgesamt 20 Aminosäuren wird durch jeweils ein spezifisches Transport-RNA-Molekül bewirkt. Die spezifischen Eigenschaften der Proteine werden durch die Art und Reihenfolge der Aminosäuren bestimmt, aus denen sie aufgebaut sind. Diese legen auch die räumliche Struktur des jeweiligen Proteins fest, die wesentlich seine Funktion bewirkt. Durch die molekularchemische Apparatur der Zelle wird längs der DNA die Information abgelesen, zunächst auf kürzere RNA- Moleküle kopiert und dann in das codierte Proteinmolekül überführt. Eine Rückcodierung des Proteins in DNA ist nicht möglich. Da eine bestimmte Funktion wesentlich durch die räumliche Faltung und weniger durch die genaue chemische Zusammensetzung eines Proteins hervorgerufen wird, kann eine bestimmte Funktion durch unterschiedliche Nukleotidsequenzen codiert werden. Das bedeutet, dass ganz unterschiedliche zufällige Mutationen zu dem gleichen Endergebnis führen können und damit die Wahrscheinlichkeit für das zufällige Entstehen einer für die Evolution nützlichen Eigenschaft erheblich anwächst.

2.2 Eine Erweiterung des genetischen Repertoires

Während bei den (kernlosen) prokaryoten Zellen die Proteinproduktion unmittelbar im Anschluss an die Erzeugung der RNA-Kopien beginnt, wird bei den später entstandenen eukaryoten Zellen eine Zwischenstufe eingeschoben. Die DNA dieser Zellen enthält neben den Genen, die in entsprechende Aminosäuren umgesetzt werden, eine Vielzahl von Zwischenstücken (Introns), die nicht in Proteine umgesetzt werden. Nachdem im Zellkern die RNA kopiert wurden, werden zunächst die mitkopierten Zwischenstücke durch einen besonderen Apparat wieder herausgeschnitten. Diese Vorgänge werden durch Kontrollsequenzen zeitlich und in Abhängigkeit von der chemischen Zusammensetzung des Cytoplasmas gesteuert. Welche Bedeutung die Introns haben, ist bisher nicht bekannt. Sie könnten auch selbst als Kontrollsubstanzen wirken. Auf jeden Fall ermöglichen sie aber vielfältige Möglichkeiten einer unterschiedlichen Rekombination der Gen-Bruchstücke und damit neue Varianten der Genmutation unter Verwendung bereits bewährter Variationen. Erst nach dieser Bearbeitung verlässt die RNA den Zellkern und wird in den Ribosomen in Proteine umgesetzt.

2.3 Das vernetzte Genom

Das Vorhandensein eines bestimmten Gens besagt noch nichts über das Auftreten der zugehörigen phänotypischen Eigenschaften. Viele Gene existieren in mehreren Kopien, zum Teil sogar in verschiedenen Chromosomen, müssen zusammenwirken und können auch an andere Stellen der DNA wandern. Man muss deshalb davon ausgehen, dass die Wirkung der Gene durch ein komplexes Netz von Kontrollgenen im Genom gesteuert und zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Umständen ein- und ausgeschaltet werden kann.

2.4 Erhaltung der genotypischen Identität

Die Übertragung der genotypischen Eigenschaften auf die Nachkommen erfordert die Replikation der DNA mit außerordentlich kleiner Fehlerrate. Hier steht eine gesonderte molekularchemische Maschinerie zur Verfügung. Zur Herstellung einer Kopie wird die DNA-Doppelhelix zunächst entspiralisiert und dann in die beiden komplementären Bestandteile zerlegt. Der eine Teil wird in der Leserichtung unmittelbar nach der Aufspaltung durch eine Polymerase wieder zu einer Doppelhelix ergänzt, während der andere antiparallele Teil, ausgehend von der Aufspaltungsstelle in entgegengesetzter Richtung stückweise komplettiert und zusammengesetzt wird. Bei der Kopie entstehende Fehler werden durch spezielle Reparaturenzyme erkannt und korrigiert. Es gibt zwei Sorten von Reparaturenzymen. Die erste Sorte repariert die DNA direkt am Strang entlang, während die zweite Sorte die fehlerhaften Stücke zunächst herausschneidet, dann repariert und wieder einsetzt. Durch diesen Replikationsmechanismus wird ein DNA-Molekül mit der geringen Fehlerrate von 0,1 bis 0,01% kopiert, während bei der Herstellung der Proteine eine Fehlerrate von 10% zugelassen wird.

2.5 Sex und Kombinatorik: Suche nach neuen Identitäten

Eine Quelle für die Entstehung neuer Identitäten ist die bei der Replikation zugelassene Fehlerrate. Da bei jedem Individuum andere Fehler auftreten, ist die Variation des Genpools einer Population sehr vielfältig. Diese Vielfalt wird durch den Mechanismus der sexuellen Vermehrung noch quadriert. Insbesondere durch die vor der Reifeteilung erfolgende Überkreuzung der DNA-Stränge homologer Chromosomen wird für eine möglichst zufällige Kombination aller Genvarianten gesorgt. Die sexuelle Rekombination der Gene hat nicht nur den Effekt der Entstehung neuer Genomvarianten, sondern sorgt auch für das Aussterben rezessiver schädlicher Gen-Allele, die nur deshalb vererbt werden können, weil ihre Signale vom dominanten Allel stets überdeckt werden.

2.6 Strategien der genomischen Evolution

Erfolgreiche Evolution ist nur möglich, wenn die erfolgreichen Gene genau genug kopiert und an kommende Generationen übertragen werden können. Exakte Kopierung verhindert aber jede Evolution. Es musste also eine Strategie gefunden werden, die bei hinreichender Stabilität der Art dennoch Variationen ermöglich. Eine ausschließlich vegetative Vermehrung führt dabei wegen des früher oder später unvermeidlichen Auftretens letaler Mutationen mit Sicherheit in eine Sackgasse. Nur wenn wie bei den Prokaryonten die Anzahl der Zelllinien größer als 10^15 ist, wird die Wahrscheinlichkeit positiver Rückmutationen hinreichend groß.

Für die 1000-fach größeren eukaryotischen Zellen war der einzige Ausweg die Rekombination vorhandener genetischer Elemente durch die sexuelle Vermehrung. Die Mutationsrate muss dabei gerade so groß sein, dass innerhalb einer Art jedes Individuum genetisch einzigartig ist, ohne dass jedoch die Kombinationsmöglichkeit der Gene verloren geht.

2.7 Zähmung des Chaos

Erfolgreiche Evolution ohne einen intelligenten Schöpfer ist nur auf der Basis eines „schöpferischen“ Zufalls möglich. Der schöpferische Zufall ist gegenüber dem chaotischen Zufall mikrophysikalischer Einzelereignisse dadurch charakterisiert, dass er durch Selbstorganisation und konservative Strukturen eingeschränkt ist. Ein derart eingeschränkter Zufall hat nur noch die Wahl zwischen den aus der vergangenen Entwicklung resultierenden Möglichkeiten. (ist nicht auch der Zufall mikrophysikalischer Einzelereignisse derart eingeschränkt ?)

3. Das mittlere Netz: Zellen

3.1 Genotyp und Phänotyp

Der Genotyp ist repräsentiert durch das linear angeordnete genetische Programm, dessen Erhaltung und Vermehrung durch die molekulare Maschinerie des inneren Netzes gewährleistet wird. In den Ribosomen werden aber nicht nur die Proteine synthetisiert, die für die Erhaltung und Vermehrung des Genotyps sorgen, sondern auch diejenigen, aus denen der Phänotyp aufgebaut wird, der die dreidimensionalen Strukturen des gesamten Organismus prägt. Zwar wird der grundsätzliche Aufbau des Phänotyps durch das Genom bestimmt, viele Einzelheiten seiner Ausgestaltung hängen aber auch von den Umgebungsbedingungen ab, unter denen er sich entwickelt. Der Phänotyp trägt die Auseinandersetzungen mit der Umwelt und wird mit dem Anwachsen seiner Komplexität und seiner Evolution von der prokaryotischen über die eukaryotische Zelle zum Vielzeller immer bedeutsamer für die Entwicklung des Organismus.

3.2 Zellenevolution, Symbiogenese und ihre Folgen.

In den ersten 2 Milliarden Jahren der biologischen Evolution gab es nur kernlose (prokaryote) Zellen.

Im Zuge der Evolution entwickelte sich der Energieumsatz im wesentlichen über folgende Stufen

· In der reduzierenden Uratmosphäre standen den prokaryoten Urzellen lediglich spontan durch Sonnenstrahlung und atmosphärische Vorgänge entstandene anorganische und energiereiche organische Makromoleküle als Energiequelle zur Verfügung. Einzelheiten des Energiestoffwechsels sind hierzu nicht bekannt. Bereits die ältesten bekannten anaeroben Archebakterien sind aber in der Lage, das Sonnenlicht als Energiequelle zu nutzen und mit Hilfe von Rhodopsin den in allen lebenden Zellen universellen Energieträger ATP aufzubauen.

· Mit der Erfindung des Chlorophylls der grünen Pflanzen vor etwa 3 Milliarden Jahren wurde das Sonnenlicht zur entscheidenden Energiequelle. Bei der Photosynthese wird der im Wasser sehr fest gebundene Wasserstoff über mehrere Zwischenschritte auf ein höheres Energieniveau gehoben und durch Aufbau eines Traubenzuckermoleküls unter C02­Aufnahme weniger fest gebunden, wobei in diesem Prozess gleichzeitig aus 6 ADP-Molekülen unter Aufnahme von anorganisch gebundenem Phosphor 6 energiereichere ATP-Moleküle entstehen. Die im ATP gebundene Energie kann in allen Zellen durch Rückwandlung in ADP wieder freigesetzt und für eine Vielzahl von Lebensprozessen verwendet werden, darunter auch zum Aufbau weiterer organischer Verbindungen. Der rein anaerobe Energiestoffwechsel prokaryoter Zellen war sehr ineffektiv, nur etwa 10% der aufgenommenen Nahrungsenergie konnte genutzt und in Biomasse und biologische Leistung umgesetzt werden. Obwohl die energetischen Primärvorgänge am Chlorophyll mit nahezu 100%iger Effizienz ablaufen, gehen 90% der Energie beim Aufbau weiterer langlebiger stabiler und komplexerer Moleküle ungenutzt verloren. Dies fordert der II. Hauptsatz, da die durch den Aufbau komplexer Strukturen aus einfacheren Elementen geschaffene größere Ordnung durch Entropieexport ausgeglichen werden muss.

· Die mit der Photosynthese verbundene Sauerstoffproduktion führte vor 1,5 Milliarden Jahren zur Entstehung der Sauerstoffatmosphäre. Das ermöglichte den mindestens 5 mal effektiveren oxidativen Energiestoffwechsel in den wesentlich größeren eukaryotischen Zellen. Durch vollständige Oxidation energiereicher organischer Nährstoffe zu C02 und H2O wird wiederum aus ADP der universelle, aber kinetisch labile Energieträger ATP hergestellt. Die darin nur kurzfristig speicherbare Energie kann dann durch den umgekehrten Prozess in reaktionsträgen Makromolekülen gespeichert und zu einen späteren Zeitpunkt wieder auf ATP übertragen werden. Durch diese Speicherprozesse gehen nur etwa 20% der gespeicherten Energie verloren.

In den Zellen der Eukaryonten erfolgt die ATP-Produktion lokal konzentriert in den Mitochondrien (oxidativer Prozess) und in den Plastiden (Photosynthese). Diese Organellen sind Produkte einer Symbiose unterschiedlicher prokaryoter Zellen, die von den später entstandenen Eukaryonten übernommen wurden. Die den Mitochondrien und Plastiden zuzuordnenden Gene wurden zum größten Teil in die Zellkerne der eukaryoten Zelle übernommen. Eine spezifische Eigenschaft dieser Gene ist es, dass bei sexueller Vermehrung der Wirtszelle nur die weiblichen Gene der Mitochondrien übernommen werden.

Während prokaryote Zellen im Inneren noch weitgehend homogen sind, gibt es bei den im Volumen 1000-fach größeren eukaryoten Zellen innere Strukturen mit mindestens 6 verschiedenen Bestandteilen und Funktionen.

3.3 Informationsmanagement der Zelle

Die molekularchemische Apparatur einer eukaryotischen Zelle enthält Tausende verschiedene Proteine mit den verschiedensten Funktionen. Für die Umsetzung der genotypischen Informationen in den Proteinapparat des Phänotypes sind folgende Schritte notwendig

· Transkription der DNA in RNA-stücke, die jeweils ein bestimmtes Protein codieren oder eine Transport- oder Erkennungsfunktion realisieren

· Bearbeitung der RNA, um Introns zu entfernen und nicht zusammenhängende, aber zusammengehörige Gensequenzen zu vereinigen

· Transport der RNA durch die Kernhülle in das im Cytoplasma liegende Ribosom

· Erkennung der Nukleotidtripletts und Translation der Information in die entsprechende Aminosäure

· Synthese des Proteins durch Aufbau der Aminosäuresequenz im Ribosom

· Modifikation des Proteins entsprechend den im Cytoplasma vorliegenden chemisch-physikalischen Bedingungen

· Erkennung des Proteins durch Signalsubstanzen und Transport des Moleküls an den vorgesehenen Ort innerhalb oder außerhalb der Zelle

Für alle Schritte dieses Prozesses wird Energie in Form von ATP verbraucht.

3.4 Stoffkreisläufe und Massentransport

Der Transport aller für den Stoffwechsel benötigten Substanzen durch die Membranen der Organellen und durch die Zellwand nach außen erfolgt mit Hilfe eines Containersystems. Am Quellort bildet sich eine Membrantasche, welche die zu transportierende Substanz einschließt. Dieses Vesikel wird mit Erkennungssequenzen versehen, die als eine Art Adresse von Rezeptoren am Zielort erkannt werden. Die Membran am Ziel verschmilzt dann mit dem Vesikel und entlässt die transportierte Substanz auf die andere Seite der Membran.

3.5 Signalverkehr und Informationsübertragung

Innerhalb der Zelle und zur Anpassung an die Umgebungsbedingungen wird die Proteinexpression und der Stoffwechsel zur Aufrechterhaltung optimaler physikalisch-chemischer Verhältnisse sowohl räumlich als auch in der zeitlichen Abfolge durch chemische Signal- und Botenstoffe geregelt. Vorherrschend ist das Prinzip der analogen Mengenregelung, es gibt aber auch Substanzen, die als digitale Ein- und Ausschalter wirken. Die Anzahl unterschiedlicher Signal- und Rezeptorsubstanzen und ihre Wechselwirkungen sind unübersehbar groß. Manche Zellen durchlaufen auch periodisch-zyklische Zustände und wirken als biologische Uhren.

3.6 Der Energie- und Stoffhaushalt von Zellen

Die für die Aufrechterhaltung des Fließgleichgewichts erforderliche Energie kommt bei autotrophen Lebewesen aus energiereichen anorganischen Verbindungen (H2, S, H2S, Fe 2+) oder wird durch Photosynthese gedeckt, bei heterotrophen Lebewesen wird sie aus energiereichen organischen Verbindungen gewonnen. In jedem Falle werden Elektronen, die auf hohen Energieniveaus gebunden sind, in Substanzen mit niedrigeren Energieniveaus transferiert. Bei autotrophen wird der Kohlenstoff aus CO2 gewonnen. Als universeller Energieträger dient innerhalb der Zellen Adenintriphosphat (ATP), das in den Mitochondrien erzeugt wird. Alle auf- und abbauenden Reaktionen werden durch Enzyme katalytisch beschleunigt. In einer Zelle laufen gleichzeitig Hunderte bis Tausende derartiger Reaktionen ab. In einer Prokaryotenzelle werden 2 Mio. ATP-Moleküle pro Sekunde umgesetzt, in den 1000-fach größeren Zellen der Eukaryoten laufen die Prozesse 10-mal langsamer ab. Die an einem Stoffwechselpfad beteiligten Enzyme bilden zusammenhängende Systeme, in denen die Substanzen fließbandartig weitergereicht werden. Die beteiligten Enzyme und Membranen werden laufend durch Austausch von Aminosäuren und Fettsäuren in einem solchen Zustand gehalten, dass in Abhängigkeit von den chemischen und physikalischen Bedingungen optimale Reaktionsraten erzielt werden. An der Aufrechterhaltung des Fließgleichgewichtes sind alle Enzyme gleichermaßen selbstorganisatorisch beteiligt, es gibt kein gesondertes Steuerzentrum. Energieüberschüsse können in Fetten und Kohlehydraten gespeichert werden, bei deren Abbau 80% des ATP wiedergewonnen wird. Proteine können in Zellen nicht gespeichert werden.

Damit die bei exergonen Reaktionen freiwerdende Energie möglichst vollständig auf die endergonen Reaktionen übertragen werden kann, wird das Fließgleichgewicht lokal in der Nähe des thermodynamischen Gleichgewichtes gehalten. Der Energiebedarf einer (menschlichen Blut-) Zelle verteilt sich wie folgt:

Proteinumsatz

34,7 %

Natrium-Ionenpumpe

19 %

Calzium-Ionenpumpe

27,8 %

RNA- Synthese

8,5 %

DNA- Synthese

7,6 %

Summe

97,6 %

4. Das mittlere Netz: Organismen

4.1 Das Problem der Bildung eines Organismus

Zwischen der autonomen Vermehrungsfähigkeit der einzelnen Zellen und ihrer Kontrolle durch den Organismus bestehen von vornherein entgegengesetzte Interessen. Diesen Widersprüchen wird durch die Trennung der Keimbahn von den somatischen Zellen begegnet. Bei Insekten und anderen Wirbellosen verlieren die somatischen Zellen sehr früh ihre totipotente Vermehrungsfähigkeit und werden streng spezialisiert. Bei den Wirbeltieren erfolgt diese Spezialisierung erst später, was eine größere Variabilität der Zellinien ermöglicht, aber die Kontrolle des Organismus über die Vermehrung der Zellen erschwert und zu unkontrolliertem Krebswachstum führen kann. Bei den Pflanzen erfolgt das Wachstum, bedingt durch die starren Zellwände, nur an speziellen Trieben, die Abtrennung der Keimbahn erfolgt erst sehr spät bei der Bildung der Blüten.

Zur Kontrolle der Zellentwicklung werden zwischen benachbarten Zellen Signalstoffe ausgetauscht, die vorprogrammierte Selbstmordprogramme auslösen oder verhindern und damit die Entwicklung der Zelllinie steuern können.

4.2 Der Zellzyklus

Eine somatische Zelle verrichtet abwechselnd zwei Hauptaufgaben:

· Zellteilung (Mitose)

· Komplettierung des geteilten DNA-Stranges und Wachstum der geteilten Zelle auf ihre vorherige Größe

Zwischen den beiden Phasen liegt je ein Kontrollpunkt, so dass der Zyklus nicht fortgesetzt werden kann, bevor die vorhergehende Phase abgeschlossen ist. An den Kontrollpunkten können auch Signalstoffe von außerhalb der Zelle steuernd eingreifen.

Bei der vegetativen Vermehrung der Zellen verkürzen sich die DNA-Stränge bei jedem Teilungsakt, so dass nach 20 bis 50 Teilungen somatische Zellen nicht weiter lebensfähig sind. Diese Begrenzung der Teilungsfähigkeit gibt es bei den Prokaryoten, bei Krebszellen und bei der sexuellen Vermehrung der Keimzellen nicht, die Verkürzung der DNA-Stränge wird dort jeweils wieder repariert.

Bei den ältesten Tiergattungen mit Larvenstadium existiert eine Reservekeimzelle, die im Larvenstadium nicht in Proteine exprimiert wird. Erst nachdem die Teilungsfähigkeit der Larvenzellen erschöpft ist, werden die Gene der Reservezellen exprimiert und erzeugen dann den adulten Organismus.

4.3 Morphogenese

Die Herausbildung der unterschiedlichen Organ-Zelllinien aus dem ursprünglich einheitlichen Genom erfolgt durch Stilllegung der nicht benötigten Genkomplexe in den einzelnen Linien. Diese Abschaltung von Genkomplexen erfolgt nicht nur durch Steuergene, sondern auch durch eine massive Einflussnahme der Proteinkonzentrationen auf die Genexpression. Während der Ontogenese des Organismus bewirkt die Wechselwirkung der verschiedenen Organe und auch die Einflussnahme der Umwelt durchaus eine innere und äußere Selektion der zu exprimierenden Gene, jedoch werden diese während der Ontogenese erworbenen Eigenschaften nicht auf die nächste Generation des Organismus vererbt.

4.4 Die prekäre Harmonie des Organismus

Werden und Sein des vielzelligen Organismus hängt ab

- von der Erhaltung und Replikation des Genoms,
- von der Expression der genetischen Information,

- von der Übertragung und Verarbeitung von Information innerhalb von Zellen sowie zwischen diesen und der Umwelt,

- vom Energiehaushalt und Stoffwechsel der Zellen,
- vom Zellzyklus und von morphogenetischen Prozessen, die zur arbeitsteiligen Differenzierung von Geweben und Organen aus einer befruchteten Eizelle führen.

Dabei muss man feststellen, dass zahlreiche Merkmale eines Organismus keineswegs optimal gestaltet sind, sondern mit aus der phylogenetischen Entwicklung resultierenden traditionellen Bürden belastet sind und die Leistungsfähigkeit auf den verschiedenen Gebieten von gegenseitigen Kompromissen geprägt ist. Wenn auch die Gene die Merkmale des Organismus wesentlich bestimmen, so ist es doch der Organismus, der als Einheit der Selektion diese Kompromisse herstellt und gegenüber der Umwelt vertritt. Das von Richard Dawkins vertretene Konzept des „egoistischen Gens“ scheint aus dieser Perspektive zu mindest sehr einseitig und unterbewertet das integrierende System des Organismus als Vehikel der Gene.

4.5 Herkunft und Ziele im Reich der Tiere

Alle 25 rezenten und ein paar Dutzend ausgestorbene Tierstämme lassen sich heute sowohl anhand der Baupläne als auch anhand charakteristischer Gensequenzen trotz ihrer morphologischen Mannigfaltigkeit auf eine einzige Wurzel zurückverfolgen. Als Fortschritt des evolutionären Prozesses kann man jedoch kaum die Steigerung der Überlebensfähigkeit der Organismen definieren, denn auch viele der Vertreter der ältesten Stämme haben unter wechselnden Umweltverhältnissen bis heute überlebt. Zugenommen haben aber von den Prokaryonten bis zu den einfachsten Wirbeltieren die Genomgröße, von den Fischen bis zu den Primaten die Anzahl der Zelltypen und bei den Säugern bis zum Menschen die relative Gehirnmasse. Diese drei Merkmale charakterisieren zunehmende Komplexität als wesentliches Element des evolutionären Fortschritts.

4.6 Die Erhaltung des Systems

Der adulte Organismus ist das Produkt eines ontogenetischen Prozesses, in dessen Verlauf die Totipotenz der Eizelle Schritt um Schritt auf Zelllinien aufgeteilt wird, die sich in weiterer Folge zu Geweben formieren. Am Ende des Prozesses steht das Individuum, ausgestattet mit auf verschiedene Leistungen spezialisierten Organen. Der innere Zustand des Organismus, insbesondere Temperatur, Blutdruck und Blutzuckerspiegel werden nicht nur durch mehrere miteinander vernetzte Regelkreise auf bestimmten Sollwerten gehalten, sondern diese Sollwerte können auch selbständig verstellt und je nach den aktuellen Leistungsanforderungen verändert werden. Damit wird erreicht, dass der Stoffwechselumsatz bis auf das Tausendfache, der Blutdurchsatz durch die Kapillaren bis auf das Hundertfache und der Energieumsatz bis auf das zehnfache des normalen Wertes gesteigert werden können. Während der Evolution haben sich die verschiedenen Organe so aufeinander abgestimmt, dass die Dauerleistungen zur Erhaltung des Organismus unter minimaler Entropieproduktion erzielt werden können. Zur optimalen Reproduktion des Organismus sind jedoch zeitweise Höchstleistungen gefordert, die nur unter Verzicht auf höchste Effizienz erreichbar sind. Alle Organe haben deshalb bezogen auf die normalen Leistungen erhebliche Reserven.

In Anbetracht der Komplexität und Unterschiedlichkeit der zur Stabilisierung des Organismus erforderlichen Lösungen scheint die Regelung der inneren Parameter des Organismus nicht nach den Prinzipien der Kybernetik zu erfolgen. Vielmehr scheint der Organismus mit einer Reihe von unterschiedlichen Funktionsprinzipien ausgestattet zu sein, die nach der jeweiligen Situation miteinander konkurrieren und durch innere Selektion entsprechend dem Erfolg ausgewählt werden. Derartige innere Selektion zeigt sich auch in der Entwicklung und Arbeitsweise des Nervensystems, des Immunsystems und des Hormonsystems, die in gegenseitiger Wechselwirkung die Aufrechterhaltung der inneren Systemzustände bewerkstelligen, ohne von einer zentralen Instanz gesteuert zu sein.

4.7 Überschussleistungen: Wachstum und Vermehrung

Alle Organismen haben über die reine Erhaltungsfunktion hinaus beträchtliche Leistungen für Wachstum und Vermehrung zu erbringen.

Spezifische Energieumsätze verschiedener Lebewesen

Lebensform

Watt/kg

Eukaryote Einzeller

330

Wechselwarme kleine Tiere

1,6

Maus

16

Wechselwarme große Tiere

0,1

Mensch

1,1

Die Anteile des Erhaltungsumsatzes mit 31 % und die Anteile für Wachstum und Reproduktion mit 45% sind für alle Gruppen nahezu gleich, wobei warmblütige Tiere wegen des größeren Gesamtumsatzes, der für die Regelung der Temperatur gebraucht wird, schneller wachsen als wechselwarme, aber wegen besserer Brutpflege auch weniger Nachkommen aufziehen und deshalb geringere Anteile in Biomasse umsetzen und höhere Sozialleistungen erbringen.

Während die Verminderung des Energieumsatzes von den Einzellern zu den Mehrzellern auf verbesserte Effizienz des Energiestoffwechsels zurückzuführen ist, ist der Anstieg um den Faktor 10 bei den Warmblütlern durch verbesserte Lebensqualität bedingt. Dieser Anstieg des Energieumsatzes zur Verbesserung der Lebensqualität setzt sich in der weiteren kulturellen Evolution des Menschen fort.

Für alle Pflanzen und Tiere wächst der Energieumsatz mit der 0,75 ten Potenz ihrer Masse. Bei Warmblütlern hatte man zunächst angenommen, dass dieser bei zunehmender Masse relativ geringere Energieumsatz mit der relativen Abnahme der Körperoberfläche erklärt werden könnte, was jedoch auf eine 2/3-Potenz führen müsste. Es hat sich aber gezeigt, dass der 3/4- Exponent auf die Optimierung des Energiebedarfs für die Stoffwechseltransportsysteme zurückgeführt werden kann. Alle Transportsysteme ( Luftzufuhr, Blutkreislauf, Nahrungsaufnahme, Ausscheidungssysteme) sind räumlich nach fraktaler Geometrie organisiert, deren Material- und Energiebedarf gerade mit dieser Potenz zunimmt. Folge dieses abnehmenden spezifischen Energiebedarfs ist es, dass kleine Tiere schneller wachsen als große, aber große länger leben als kleine.

Infolge der ausgeprägten Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Organen ist es erforderlich, dass auch deren Wachstum gut koordiniert erfolgt, wobei die Verteilung der Ressourcen über den Blutkreislauf erfolgt. Die der logistischen Gleichung entsprechende Wachstumskurve zeigt am unteren Ende eine der vorhandenen Substanz proportionale Wachstumsgeschwindigkeit, während sie am oberen Ende wesentlich von der angestrebten Endgröße beeinflusst ist. Die Wachstumsraten der einzelnen Organe und des Gesamtorganismus werden weniger von dem Nahrungsangebot beeinflusst, sondern werden durch genetische Faktoren über die regulatorischen Systeme des Organismus gesteuert, die auch für die Systemerhaltung sorgen.

In die mit dem Wachstum verbundene Produktion von neuer Biomasse werden rund 30 % des Energieverbrauchs investiert, 60 bis 70 % gehen verloren. Hinzu kommen noch die Erhaltungskosten des Organismus, die sehr unterschiedlich sind. Vom Gesamtenergieumsatz werden je nach Wachstumsgeschwindigkeit zwischen 1% und 50% für das Wachstum verwendet.

5. Das äußere Netz

5.1 Natürliche und sexuelle Selektion

Einerseits ermöglicht die sexuelle Fortpflanzung die Kombination unterschiedlicher Gene und damit eine schnelle Vervielfachung des Genpools, andererseits führt aber die sexuelle Kombination auch zur willkürlichen Auswahl von phänotypischen Merkmalen, die dem Prinzip der Selektion des Fittesten widersprechen. Dass trotzdem die sexuelle Fortpflanzung so dominierend wurde, kann 2 Gründe haben:

· Gegenüber dem schnellen Wachstum und der daraus resultierenden Möglichkeiten einer schnellen Genmutation von einzelligen Parasiten hatten die Mehrzeller keine andere Chance, sich der Parasiten zu erwehren.

· Einmal eingeführt, war es schwierig, den Pfad der sexuellen Fortpflanzung wieder zu verlassen

5.2 Konkurrenz und Kooperation

Alle Lebewesen treten ihrer Umwelt als gegenseitige Konkurrenten gegenüber. Dabei entscheiden oft nur geringe Unterschiede das Überleben eines Konkurrenten. Aber selbst unter härtesten Konkurrenzbedingungen entstehen Situationen, die zur Kooperation zwingen. So kommt es auch unter Konkurrenten zur Gruppen- und Herdenbildung. Eine Antilope braucht nur wenig schneller zu sein als ihre Artgenossen: Nur in der Herde hat sie die Chance, dem Löwen zu entkommen, wenn dieser schneller ist als sie.

5.3 Trophische Systeme: Parasitismus, Symbiose und Domestikation

Räuber-Beute-Beziehungen führen oft zu stabilen ökologischen Systemen. Beide Partner stehen als Populationen in einem ständigen Rüstungswettlauf, um überleben zu können. Dabei ist aber auch der Räuber daran interessiert, den Beutepartner nicht vollständig auszurotten und sich damit selbst die Nahrungsgrundlage zu entziehen. Somit sind es nicht immer die bestgerüsteten Partner, welche die natürliche Selektion überleben. Obwohl die Selektion direkt am Individuum angreift, ergeben sich hier Aspekte einer Gruppenselektion, welche die Population dezimiert. In diese Gruppe der Beziehungen fallen auch Mikroparasiten und Krankheitserreger und ihre Wirte, deren Koevolution oft auch in einer Nahrungssymbiose endet, aus der beide Partner Vorteile ziehen. In einer solchen Beziehung gewinnt der eine Partner häufig die Kontrolle über die Vermehrung des anderen (Mitochondrien, Darmbakterien, Haustiere).

5.4 Soziale Systeme

Soziale Systeme entstehen, wenn der Reproduktionserfolg der Individuen im System größer ist als bei nicht sozialer Lebensweise. Charakteristisch für soziale Systeme sind Arbeitsteilung, Brutpflege und Nachkommenbetreuung. Bei Korallen, Bienen, Ameisen und Termiten wird der Status eines Superorganismus mit Hunderttausenden von Mitgliedern erreicht. Der Informationsaustausch erfolgt meist durch chemische Substanzen, die Mitglieder erkennen sich aber nicht als Individuen.

Vögel und Säugetiere können auf der gleichen Grundlage soziale Systeme bilden, erkennen sich aber als Individuen. Für den sozialen Zusammenhalt sind bei diesen aber Rangordnungs- und Dominanzbeziehungen entscheidend. Es entwickeln sich soziale Lernbeziehungen, Traditionen und reziproker Altruismus, besonders bei den Primaten, sowie Fremdenfeindlichkeit gegenüber Nichtmitgliedern der Gemeinschaft.

5.5 Gruppenkohäsion

Bei den sozialen Systemen der Insekten wird die Kohäsion des Systems nur durch soziale altruistische Gene und durch einen Vermehrungsmechanismus erzeugt, der einen großen Teil der Systemmitglieder von der Vermehrung ausschließt. Für die Vermehrung der weiblichen Mitglieder des Systems ist nur die Königin zuständig. Infolgedessen setzt die Selektion auch nicht mehr am Individuum, sondern fast ausschließlich am System an.

Erst bei den Primaten mit ihren weit entwickelten Gehirnen ist es möglich, auf die Kohäsion des Systems durch Verhaltensregeln und Normen Einfluss zu nehmen, obwohl auch in diesen Systemen noch Reste genetischer Traditionen eine Rolle spielen und eine Konzentration der Vermehrungsbefugnis auf den Anführer einer Gruppe zu beobachten ist.

Bei den sozialen Systemen zunehmend autonomer Individuen dehnt sich die Gruppe über den Rahmen genetischer Gemeinschaften aus. Genetische Verwandtschaftsselektion wird dann zunehmend durch ethisch-moralische Auswahlkriterien ersetzt. Die Gruppenkohäsion wird durch gemeinschaftliche Emotionen und Gruppen-Patriotismus gesteuert, in deren Folge sich Fremdenfeindlichkeit gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen entwickelt.

6. Selektionseinheiten und Systemübergänge

In der Auseinandersetzung mit der Umwelt greift die Selektion zunächst an jedem individuellen Lebewesen an. Zur Umwelt eines jeden Lebewesens gehört neben der unbelebten Umgebung aber auch jedes andere Lebewesen. Die Umwelt ist deshalb nichts Konstantes, sondern verändert sich in der Evolution. Die Anpassung eines Lebewesens an die Umweltbedingungen ist deshalb niemals abgeschlossen.
Die Auseinandersetzung mit den anderen Lebewesen führte in der Evolution zu Systembildungen, wenn die Reproduktionserfolge jedes Individuums im System größer waren als bei individueller Lebensweise. Jede derartige Systembildung war verbunden mit der Aufgabe eines Teiles der Autonomie der Systemmitglieder und mit dem Übergang des Hauptangriffspunktes der Selektion vom Individuum auf das System.

In der biologischen Evolution gab es sechs Typen derartiger großer Systemübergänge:

  • Der Zusammenschluss replikationsfähiger und katalytischer Moleküle (Nukleinsäuren, Proteine) zu zyklisch strukturierten, autokatalytischen Vermehrungseinheiten (Hyperzyklen)
  • Der Zusammenschluss einzelner Gene zu Chromosomen mit koordinierter Replikation des gesamten Genoms
  • Integration verschiedener Formen ur- und prokaryotischer Zellen zu einem neuen eukaryotischen Zelltyp mit enorm erweitertem Repertoire physiologischer Leistungen
  • Zusammenschluss eukaryoter Zellen zu einem vielzelligen differenzierten Organismus mit ausgeprägter Arbeitsteilung
  • Formierung von Individuen einer Art zu Familiengruppen und komplexeren sozialen Gebilden
  • Übergang zur kulturellen Evolution des Homo sapiens durch Entwicklung der Sprache

Die evolutionäre Bedeutung dieser großen Übergänge zeigt sich vor allem darin, dass diese stets zu Innovationen und radikal neuen Eigenschaften in den jeweils gebildeten Systemen führten. Die ursprünglich identischen, gleichartigen Ausgangselemente entwickelten sich in der biologischen Evolution zu einzigartigen Individuen, die sich nicht nur durch ihre genetische Konstitution, sondern auch durch ihre spezifischen Wege in der Ontogenese und durch ihre spezifischen Erfahrungen im Sozialverband geprägt sind. Im Endeffekt hat also die mit der Systembildung verbundene Aufgabe der Autonomie nicht zu einer Verminderung, sondern zu einer weiteren Ausprägung der Individualität geführt.

Angesichts dieser Entwicklung werden die Funktionen des Phänotyps zwar von den Genen gesteuert, der Phänotyp ist aber weit mehr als ein Vehikel zur Vermehrung der egoistischen Gene, wie dies Richard Dawkins in den Mittelpunkt zu stellen suchte.