Montag, 28. Dezember 2009

Der Mann - sozial und sexuell ein Idiot?

Der Mann - sozial und sexuell ein Idiot?
Plädoyer für eine selbstbewusste und dialogbereite Männerbewegung


Thomas Gesterkamp


Ich freue mich, hier als männlicher Autor einen Beitrag zum Thema Frauenbewegung beisteuern zu dürfen. Ich halte das für keineswegs selbstverständlich - vor dem Hintergrund der Grenzziehungen in der Geschlechterfrage, welche die Entstehung der neuen Frauenbewegung seit dem legendären Tomatenwurf im SDS Ende der 60er Jahre begleitet haben. Ich bin Ende 1957 geboren, und gehöre damit nicht der 68er, sondern, wenn man so will, der 78er Generation an. Ich glaube, für die geschlechterpolitische Debatte sind diese zehn Jahre biografische Differenz ganz erheblich - und erst recht jene 20 oder gar 30 Jahre, die der Abstand zu "68" für später geborene Frauen und Männer ausmacht.

Ich will Ihnen einfach mal die Stimmung beschreiben, in der ich als junger Mann erstmals mit der Frauenbewegung konfrontiert war. Politisch war das eine Zeit, in der die von männlichen 68er-Machos geprägten linken Kadergruppen - von den maoistischen Sekten bis zur RAF - endgültig gescheitert waren. Die zarten Pflänzchen von Bürgerinitiativen und Alternativbewegung, die später zur Gründung der Grünen Partei führten, lugten sozusagen gerade aus der Erde. Ansonsten, so habe ich es empfunden, dominierten Selbsterfahrung und Innerlichkeit - und eine radikale Abkapselung der Geschlechter. Natürlich gab es persönliche Beziehungen, Lieb- und Freundschaften zwischen Männern und Frauen - doch im politischen Raum fehlte, abgesehen vielleicht vom Kampf um die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen 218, jeder Gender-Dialog. "Das erste und letzte Tabu waren Männer", schreibt die Mitbegründerin der Frauenzeitschrift "Courage", Sibylle Plogstedt, in ihrem gerade erschienen Rückblick auf die Geschichte der autonomen "Frauenkollektive". Und sie schreibt weiter, ich zitiere: "Die Apartheid, die der Männer-Gesellschaft gegen Frauen, versuchten Teile der neuen Frauenbewegung gegen die Männer zu lenken."

Die Folgen dieser extremen Polarisierung spürten wir "Nach 68er"-Männer in unserem ganz privaten Alltag mit Frauen. Eine WG-Mitbewohnerin empfahl mir Verena Stefans "Häutungen", um mir die Unzulänglichkeiten der männlichen Sexualität vor Augen zu führen. Später war es angesagt, den "Tod des Märchenprinzen" von Svende Merian zu lesen. Beides, so finde ich inzwischen - und wahrscheinlich sehen das viele Frauen ganz ähnlich! - ziemlich schlechte Bücher, literarisch sowieso, aber auch die in ihnen zum Ausdruck kommende platte Männerfeindlichkeit wirkt heute befremdlich. Damals allerdings war es ratsam, das gegenüber einer frauenbewegten Frau auf keinen Fall zuzugeben. Sich als "linker" Mann zu dieser Zeit in irgendeiner Weise politisch unkorrekt zur Frauenfrage zu äußern, konnte bedeuten, in Schwierigkeiten zu geraten. Anfang der 80er Jahre arbeitete ich als Student bei einer alternativen Stadzeitung mit. Einmal haben "autonome Frauen" unser Büro besetzt, weil ein Redaktionskollege auf einer privaten Fete zu fortgeschrittener Stunde ironische Bemerkungen über Feministinnen gemacht haben sollte - die Reaktion darauf fand selbst unsere "Frauenredaktion" überzogen. Es war eine Zeit der Abgrenzung und der oft bis zur Lächerlichkeit aufgebauschten Konflikte, eine Zeit, in der Männer keinen Frauenbuchladen betreten durften und selbst Mütter mit älteren Söhnen dort Probleme bekommen konnten; eine Zeit, in der ein viel zitiertes Bonmot lautete: "Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad".

Dieser Spruch war und ist, mit Verlaub, fast so blöd wie die Bücher von Svende Merian. Man kann ihm zu Gute halten, dass seine massenhafte Verbreitung ein Vierteljahrhundert her ist, dass erst Ende der siebziger Jahre das deutsche Scheidungs- und Familienrecht reformiert und auf das heute selbstverständliche Niveau einer zumindest der Papierform nach gleichberechtigten Gesellschaft gebracht wurde. Sie wissen das wahrscheinlich: Erst damals war Schluss mit dem diskriminierenden Schuldprinzip nach einer Trennung; war Schluss damit, dass Frauen nur erwerbstätig sein durften, wenn sich das mit ihren "Pflichten in Ehe und Familie" vereinbaren ließ. Wohlwollend könnte man also den "Fisch ohne Fahrrad" in diesem Sinne interpretieren: Eine Frau ist auch ohne Ehemann ein ganzer Mensch!

Aber der Satz beschreibt eben treffend auch ein Grundmuster im Denken in jener Phase der Frauenbewegung: nämlich die Geschlechterfrage als Gegensatz Frauen gegen Männer, als exklusives Thema "von und für Frauen" zu betrachten. Männliche Sympathisanten waren in diesem Kontext bestenfalls tolerierte Mitläufer, aber selten akzeptierte Gesprächspartner mit an bestimmten Punkten vielleicht auch anderer Sichtweise. Folgerichtig waren Männer bei der ersten Institutionalisierung von Frauenpolitik in den 80er Jahren - Stichwort Frauenbeauftragte - auch keine Adressaten von Gleichstellungspolitik. Um in dem "Fahrrad"-Bild zu bleiben: Von einem Gender-Tandem, von einem im optimalen Fall gemeinsamen, synchronen und damit sehr effektiven Treten der Pedale konnte noch keine Rede sein. Männer fuhren höchstens auf der Stange oder auf dem Gepäckträger mit. Und jede Radfahrerin weiß: Mit Gepäck tritt es sich einfach schwerer. Da schien es doch leichter, auf den "Bremser Mann" gleich ganz zu verzichten!


Der "Softie" - nur ein Medienklischee?

Und wir Männer? Wir wussten, mit den "neuen Frauen" war nicht zu spaßen - auch wenn mit Ina Deters Lied "Ich sprühs an jede Häuserwand, neue Männer braucht das Land" ja schon erste selbstironische und versöhnliche Töne in der feministischen Bewegung auftauchten. Wir jüngeren Männer waren, so glaube ich in der Rückschau, vor allem reichlich irritiert. Mit den 68er Politmackern, an denen sich die Frauen zu Recht abarbeiteten, wollten wir nichts zu tun haben. Das Ergebnis war der "Softie" - sicher auch schon damals ein Medienklischee, mit dem abweichendes Männerverhalten diffamiert wurde. Aber es gab sie ja tatsächlich, diese leicht androgyne und seltsam verhalten auftretende Männlichkeit. Zwar merkten wir bald, dass zu viel "Softness" und Unbestimmtheit in unseren privaten Frauenbeziehungen gar nicht so gut ankam. Aber im öffentlich-politischen Diskurs des Geschlechterthemas haben wir uns doch in bemerkenswerter Weise zurückgenommen. Symptomatisch dafür ist ein Satz, der damals als gedrucktes Motto jeden Band der Reihe "rororo mann" einleitete - und der meinem heutigen Vortrag den Titel geliefert hat. Dieser Satz lautet: "Der Mann ist sozial und sexuell ein Idiot." Ich habe das für das Tagungsprogramm selbstverständlich mit einem Fragezeichen versehen. Denn ein solcher verbaler Kniefall, der in falsch verstandenem "Anti-Sexismus" all unseren Geschlechtsgenossen pauschal jede fürsorgliche oder erotische Kompetenz absprach, war auch vor 20 Jahren schon unangemessen und überzogen.

Rororo, also der Rowohlt Verlag, hat sich um die Anfänge der Männerbewegung in Deutschland dennoch unzweifelhaft verdient gemacht. Die ersten deutschen Männerbücher überhaupt, etwa von Walter Hollstein oder Volker Elis Pilgrim, sind dort erschienen. 1990, die Reihe hieß schon nicht mehr "rororo mann" und auch der selbstkasteiende Motto-Spruch war gestrichen, haben mein späterer Koautor Dieter Schnack und Rainer Neutzling hier "Kleine Helden in Not" veröffentlicht - "Jungen auf der Suche nach Männlichkeit" war der Untertitel. Und das Intro dieses Buches, ein Bestseller übrigens bis heute, möchte ich Ihnen vorlesen, weil es sich aus meiner Sicht wohltuend abhebt von der Negativ-Titelei früherer Jahre: "Die Frauenbewegung löste sinnvolle und konstruktive Diskussionen über die Erziehung von Mädchen aus. Allerdings wurde bei all den Bemühungen, Benachteiligungen von Mädchen abzubauen, stillschweigend angenommen, den Jungen ginge es gut, sie wüchsen in Freiheit und Zufriedenheit auf. Die Autoren zeigen, dass das nicht der Fall ist. Die Ergebnisse ihrer Arbeit verlangen nach einem neuen, positiven Konzept der Jungenerziehung."

Das, finde ich, ist ein guter Ansatzpunkt für eine selbstbewusste und dialogbereite Männerbewegung: die meist hart erkämpfen Initiativen und Errungenschaften der Frauenbewegung würdigen und positiv bewerten, aber doch deutlich machen, dass der "Blickwechsel", wie das die Essener Geschlechterforscherin Doris Janshen in einem Sammelband genannt hat, notwendig und produktiv für beide Seiten ist. Und in diesem Sinne plädiere ich für einen Gender-Dialog, der sich nicht auf Etikettenschwindel beschränkt, sondern die männliche Perspektive wirklich ernst nimmt. Also keinesfalls einfach "Gender Mainstreaming" statt "Frauen" auf den Förderantrag schreiben, um die (dringend notwendigen) Gelder der EU zu erhalten - das kann eine Mogelpackung sein. Immerhin: Die politische Abschottung zwischen den Geschlechtern, die ich Ihnen vorhin überwiegend anekdotisch beschrieben habe, gehört inzwischen glücklicherweise der Vergangenheit an. Ich reise seit zehn Jahren, seit der Veröffentlichung meines ersten Buches "Hauptsache Arbeit - Männer zwischen Beruf und Familie", als Referent zu geschlechterpolitischen Themen quer durch die Republik. Und ich habe in dieser Zeit viele produktive Diskussionen zwischen Frauen und Männern erlebt, die Hoffnung für die Zukunft machen.

Gar nicht mal so selten bin ich bei diesen Veranstaltungen übrigens Gast von Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragten. In bestimmten Unternehmen, in bestimmten Institutionen ist das fast die einzige Möglichkeit, mit meinen Anliegen an den Kern meiner (männlichen) Zielgruppe heranzukommen. Meine Erfahrungen sind unterschiedlich: Mal schlägt mir die kühle und und schweigsame Abwehr meiner Geschlechtsgenossen entgegen - etwa, wenn ich unter Führungskräften eines großen Konzerns propagiere, weniger zu arbeiten und das "gute Leben" jenseits der traditionellen Karriere nicht aus den Augen zu verlieren. Ich erinnere mich umgekehrt an Vorträge etwa zum Thema "Väter und Familie", wo die einladende Frauenbeauftragte von der hohen Zahl der männlichen Besucher vollkommen überrascht war: So viele Männer habe sie noch nie im öffentlichen Raum über Gefühle und persönliche Probleme reden hören. Das, finde ich, ist doch eine neue Qualität der Debatte, die nur entstehen kann, wenn die Geschlechter sich nicht in Nischen separieren, sondern gemeinsame Utopien entdecken.


Vom geachteten Ernährer zum verspotteten Deppen

Für Männer ist es sehr wichtig, dass ihnen andere Männer abweichende, aber dennoch selbstbewusste Formen von Männlichkeit vorleben. Bei Recherchen in Unternehmen habe ich immer wieder festgestellt, dass es zum Beispiel unbedingt männlicher Teilzeitpioniere bedarf, um ein anderes Arbeitsmuster unter Männern akzeptanzfähig zu machen. In einer angespannten Lage, in der Massenarbeitslosigkeit die traditionelle Männeraufgabe des Familienversorgers gefährdet, drücken sich Irritation und Abwehr häufig darin aus, männliche Rollenexperimente lächerlich zu machen. Witzig sein ist beim Thema Männer, vor allem für Teile der Medien, das Allerwichtigste. Ich bin sehr dafür, dass wir uns selbst nicht furchtbar ernst und wichtig nehmen. Trotzdem möchte ich darauf hinweisen, dass in den letzten 20 Jahren eine Art kulturelle Umdeutung des Mannes vom geachteten Ernährer zum verspotteten Deppen stattgefunden hat. Einen wichtigen Beitrag dazu hat die popfeministische, manchmal auch schwullesbische Unterhaltungsbranche geleistet - etwa mit Filmen wie "Der bewegte Mann" oder scheinemanzipierten Groschenromanen wie "Das Superweib" oder "Beim nächsten Mann wird alles anders". In der Comedy-Szene hat die sexuelle Denunziation "Weichei" ein ganzes Genre von Gags nach sich gezogen. So schrieb ein hessisches Privatradio vor ein paar Jahren mit großem Erfolg einen Wettbewerb aus. Die Hörer konnten anrufen und mit immer neuen Wortkreationen Preise gewinnen. Auf den oberen Plätzen landeten Vokabeln wie "Frauenversteher" oder "Sitzpinkler".

In englischen Medien machten zur gleichen Zeit die so genannten "Lads" Furore - frei übersetzt sind das die "jungen Burschen". Prollige Fernsehshows und neuartige Herrenmagazine betrieben einen fröhlichen Kult um Saufen, Sport und Sex. Jenseits des Jammerns versuchten sie, als selbstbewusste Puffbesucher oder trinkende Fussballfans verloren gegangenes Männer-Terrain zurückzugewinnen. Denn nicht nur in den Unternehmen, wo der Pakt der alten Industriegesellschaft mit den Arbeitsmännern längst aufgekündigt wurde, auch im Privatleben können Männer heute keine bedingungslose Loyalität mehr erwarten - wenn sie etwa den weiblichen Ansprüchen an Versorgung und Vorzeigbarkeit nicht genügen. Schlecht qualifizierte Männer ohne Job leben seltener in festen Beziehungen, haben Sozialforscher ermittelt; auch der Heiratsmarkt funktioniert eben wie ein Markt.

Außer vielleicht in politischen Krisengebieten gibt es keine Welt mehr zu kontrollieren, keine Familie mehr zu schützen. "Frauen und Kinder zuerst" - die alte Gentleman-Devise, die beim Untergang der "Titanic" irischen Putzfrauen höhere Überlebenschancen garantierte als englischen Lords, wirkt heute wie das Relikt eines gönnerhaften Paternalismus, dem längst die Grundlagen entzogen sind. Die einst gefeierten "wilden Kerle" der Schwerindustrie sind die Hauptverlierer des wirtschaftlichen Umbruchs. Zumindest die westlichen Gesellschaften, so schreibt der amerikanische Männerautor Sam Keen, werden - Zitat - "von Stadtbewohnern männlichen Geschlechts mit sitzender Lebensweise regiert". Das Machtsymbol dieser hegemonialen Männlichkeit ist der Stuhl; nicht umsonst leitet der "Chairman" die Sitzungen. Muskeln dagegen zahlen sich nicht mehr aus in einer Umgebung, in der immer weniger Bau-, Stahl- oder Bergarbeiter gebraucht werden. Mit Ausnahme von Sportlern, deren Körper zu unserer Unterhaltung abgerichtet werden, kommen Männer hier zu Lande nicht mehr aufgrund von Bewegung voran.

Die neue Männerpresse, für die nicht mehr der altmodische "Playboy", sondern eher "Men's health" steht, will das angeschlagene Selbstbewusstsein ihrer Leser stärken. Nichts spricht dagegen, mit Gesundheitstipps den (für Männer alles andere als selbstverständlichen) bewussten Umgang mit dem eigenen Körper zu fördern. Was mich stört, ist, dass es eigentlich sogar im Kraftraum noch darum geht, am Arbeitsplatz besser zu funktionieren. Der "Chairman" braucht ja keinen Waschbrettbauch, um Sitzungen zu leiten. Die Devise heißt: Fit for fun, fit for job! Leistungssport und Leistungssteigerung im Unternehmen gehören zusammen: Nur wer seine körperlichen Kraftreserven aufbaut, fördert auch seine Karriere, lautet die Botschaft. Lance Armstrong ist das Vorbild, nicht Rainer Calmund.

Die amerikanische Feministin Susan Faludi vertritt die These, dass Männer sich heute ebenso wie Frauen "auf dem Markt der Eitelkeiten" behaupten müssen. In ihrem letzten Buch hat sie ein "betrogenes Geschlecht" beschrieben, das sich nicht mehr zurecht findet in der "Kampfarena des Ornamentalen", in einer Welt des schönen Scheins, in der sich nun auch Männer durch ihren Körper beweisen sollen. Äußerliche Merkmale der Attraktion haben auch deshalb an Gewicht gewonnen, weil sich gut verdienende Frauen mit Einladungen zum Essen oder teuren Autos kaum noch beeindrucken lassen. Bedeutsam ist der eigene "Body" gerade für Männer, die sich die Protzerei mit materiellen Reichtum ohnehin nicht leisten können. Umso wichtiger wird es, sich zumindest in der Erotik und Sexualität überlegen zu fühlen, kraftvolle Virilität zu demonstrieren und sich von abweichenden Lebensstilen abzugrenzen.

Windeln wechselnde Weicheier, Warmduscher oder auch die angeblichen "Bewohner des kollektiven Freizeitparks" - all diese männlichen Dissidenten haben nach solcher Lesart ein gemeinsames Problem: ihre "schwindende Machterotik". Da kommt beim schuftenden Teil der männlichen Bevölkerung dann wirklich Freude auf. Die Machterotik des Bandscheibenschadens, der Wortlosigkeit und der vier Flaschen Bier am Abend; der erotische Kick, der sich beim Heimkommen, Krimigucken und Müdewerden aufbaut; die knisternde Spannung der privaten Randständigkeit, der Überstunden und der Wampe, all das erfährt seine fröhliche Umdeutung: Ich bin ein ganzer Kerl und keiner dieser "neuen Männer".

Es verlangt in unserer Vielarbeiter-Kultur enormes Selbstbewusstsein, am Arbeitsplatz abweichendes Verhalten zu zeigen. Wer als Mann dort demonstrativ früher geht, um zum Beispiel sein Kind abzuholen oder auch nur zum Abendessen zu Hause zu sein, gilt schnell als Versager und Verweigerer. Viele Männer scheuen die Risiken, die damit verbunden sind, in ihrem Job eine ausgeprägte private Orientierung offen zu vertreten. Angesichts der wirtschaftlichen Lage überwiegen Resignation und Angst. Kann man in dieser Situation überhaupt noch über Visionen reden, positive Utopien entwickeln, sich den "Luxus" leisten, männliche Rollenentwürfe in Frage zu stellen?


Angst vor dem Abstieg

Verzagtheit und Angst vor dem Abstieg lauern bis tief in die Mittelschicht hinein. "Hartz IV" mit seiner Drohung, nach einem Jahr ohne Job sofort auf Sozialhilfeniveau abzuruschen, hat diese Tendenz verschärft. Die "Vollbeschäftigung", von der die Politiker so gerne reden, war in der Vergangenheit ja stets eine Vollbeschäftigung für Männer, sie sorgte für den regelmäßigen Familienlohn der vollerwerbstätigen männlichen Haushaltsvorstände. Arbeitslosenquoten um die ein Prozent, wie im deutschen "Wirtschaftswunder", waren nur möglich, weil die Frauen damals größtenteils am heimischen Herd geblieben sind. Jetzt aber funktioniert das alte männliche Arbeitskonzept "Vollzeit ohne Unterbrechung bis zur Rente" nicht mehr oder ist zumindest gefährdet. Das klassische Muster, ein Leben lang im selben Betrieb gut versorgt und sozial abgesichert zu arbeiten, wird zur Ausnahme. Männer sehen sich mit dem konfrontiert, was für Frauen schon immer der "Normalfall" war: mit unterbrochenen Erwerbsbiografien, mit dem vielzitierten "Patchwork", einem bunten Flickwerk aus befristeten Arbeitsverträgen, Teilzeit und Phasen eines freiwilligen oder auch erzwungenen Totalausstiegs.

Die Krise der Arbeit ist so besehen auch eine Krise der männlichen Identität, eine "Krise der Kerle", wie ich das in meinem letzten Buch genannt habe. Sicher betrifft das nicht alle Männer, parallel gibt es selbstverständlich weiterhin "vergoldete" Männerrollen und Nutznießer der "patricharchalen Dividende", wie das der australische Männerforscher Robert Connell nennt. Der Macht-Mann, der Eroberer von Märkten, der rund um den Erdball tätige globalisierte Mann, der Unternehmer-Spekulierer - solche Männer-Typen an der Spitze der Hierarchien korrespondieren mit einem bestimmten Arbeitshabitus. Dessen wichtigste Merkmale sind: ständige Bereitschaft und Verfügbarkeit, auch abends, am Wochenende oder im Urlaub; selbstverständliche Mehrarbeit über die tariflich festgelegte Zeit hinaus, auch ohne zusätzliche Entlohnung; absolute Priorität für berufliche Ziele, die stets Vorrang haben vor privaten Wünschen oder Verpflichtungen.

Das Problem liegt nun darin, dass sich nicht nur die Topmanager, sondern auch ganz normale Beschäftigte an dem beschriebenen Verhaltenskodex zu orientieren haben. Sie sind zum Beispiel konfrontiert mit Vorgesetzten, die in der britischen Debatte als "Dinosaur Dads", als Dinosaurier-Väter bezeichnet werden: Ältere Männer in Führungspositionen, die selbst "eine Frau zu Hause" haben und im Betrieb keine Zugeständnisse oder Rücksichtnahmen auf Familien- oder Freizeitinteressen ihrer Untergebenen zulassen. Oder Abteilungsleiter, die die Fragen von Männern nach Elternzeit oder reduzierten Arbeitszeiten mit vorgeschobenen Argumenten abweisen. Entsprechend zäh gestalten sich die Versuche einzelner, dagegen zu halten. Auf Veranstaltungen erzählen mir Männer: Völlig undenkbar, im Moment kann ich nicht auf eine 3/4-Stelle gehen, da fürchte ich, dass ich gleich rausfliege. Ein Vater berichtete, er sei gleich mit Kündigung bedroht worden, als er bei seinem Vorgesetzten wegen einer Babypause anfragte. Diese Männer sagen nicht: Das Meeting um 17 Uhr fällt für mich aus, ich gehe nämlich jetzt meinen Sohn abholen! Die meisten treffen eine vielleicht persönlich schmerzende, aber doch eindeutige Entscheidung zugunsten ihres Jobs - eine gewisse private Randständigkeit nehmen sie dafür in Kauf.


Mit Männern ins Gespräch kommen

Wie kann man im Sinne eines Gender-Dialogs mit solchen scheinbar "unbeweglichen" Männern ins Gespräch kommen? Sicher nicht, in dem man erstmal den Grundsatz postuliert, dass sie alle "soziale Idioten" sind. Erreichen kann man Männer nur, wenn man nicht mit Vorwürfen und Beleidigungen beginnt. Ich versuche zum Beispiel stets deutlich zu machen, dass auch Vollzeit arbeitende Väter gute Väter sein können. Oder dass, entgegen der These vom durchweg "faulen Geschlecht", die männliche Erwerbsarbeit zugleich Familienarbeit ist, die Ernährerrolle als eine männliche Form der Sorge betrachtet werden kann. Ebenso wichtig finde ich, die weibliche Beteiligung, ja Komplizenschaft an traditionellenn Lebensentwürfen anzusprechen. Der Versorgertraum vom Märchenprinzen, der
10 000 Euro im Monat verdient und trotzdem früh nach Hause kommt, ist ja keineswegs ausgeträumt. Und für Väter, die sich in ihrer Familie engagieren, lohnt es sich, einer übertriebenen weiblichen Definitionsmacht im Haushalt und bei der Kindererziehung ihren eigenen männlichen Weg entgegenzusetzen. Wenn Mama nach getaner Berufsarbeit einen schreienden Säugling vorfindet, muss das keineswegs an väterlicher Inkompetenz bei der Pflege liegen - vielleicht ist das Baby einfach nur müde. Und vielleicht sind auch Vorschläge wie die, sich nicht mehr jede Woche einen kompletten Hausputz zuzumuten, den Löwenanteil der Wäsche einfach mit 40 Grad zu waschen oder auf das Bügeln von Unterhosen zu verzichten, durchaus einen Gedanken wert.

Nicht nur im privaten, auch im öffentlichen Gender-Dialog sind Frauen manchmal sehr ungeduldig mit Männern. Es fällt ihnen schwer, selbst "egalitär" orientierten männlichen Beiträgen mit Neugier und Interesse zuzuhören. Zwei Kollegen aus der Männerforschung, Peter Döge und Rainer Volz, haben gerade das Buch "Weder Pascha noch Nestflüchter" herausgebracht: Anhand statistischer Daten aus dem soziologischen Panel haben sie untersucht, wie Männer ihre Zeit verwenden. Daraus ergab sich eine Kontroverse mit feministischen Wissenschaftlerinnen, die sich im Kern um die Frage drehte: Was ist Hausarbeit? Die Frauenforscherinnen hatten nämlich, so banal ist das manchmal, Tätigkeiten wie Autowartung oder Kleinreparaturen in der Wohnung einfach nicht dazugerechnet. Diese Tätigkeiten sind aber, manchen Vorurteilen zum Trotz, überwiegend meist keine männliche Selbstverwirklichung im Hobbykeller. Es geht zum Beispiel darum, dass das Fahrzeug läuft, mit dem die Kinder aus der Kita abgeholt oder Einkäufe erledigt werden. Selbstverständlich ist das auch Familienarbeit! Und mit abgestandenen Frauentagungs-Witzen wie der "verbalen Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre" oder der ebenso gerne zitierten männlichen "Scheu vor dem feuchten Textil" wird man der Sachlage einfach nicht gerecht.

Ein letztes Beispiel: Ich erlebe bei meinen Veranstaltungen regelmäßig, dass Frauen die geringe Zahl der männlichen Elternzeitler anführen, um das Thema "Neue Väter" zu diskreditieren. Wenn ich auf die schwedischen Papamonate zu sprechen komme, die Familienministerin Ursula von der Leyen jetzt lobenswerterweise auch in Deutschland einführen will, kommen skeptische weibliche Zwischenrufe wie "Elchjagd" oder gar "Fußballweltmeisterschaft". Die spielen dann darauf an, dass die schwedischen Männer auffällig oft in den Sommermonaten ihre Väterzeit nehmen. Was aber ist dagegen zu sagen? Wenn Sie sich mehr als zwei Monate Auszeit absolut nicht leisten können, würden Sie die dann bei Eis und Schnee nehmen? Und kann es nicht durchaus engagierte Väterlichkeit sein, mit seinem Sohn oder auch seiner Tochter zusammen Fußball zu gucken? In Deutschland ist die Zahl der männlichen Elternzeitler übrigens deutlich gestiegen: binnen drei Jahren von 1,5 auf 5 Prozent aller AntragstellerInnen. Auch das kann man nun sehr unterschiedlich kommentieren: So, wie es die meisten Zeitungen gemacht haben, mit dem Tenor "Männer sind immer noch die faulen Säcke!" Oder eben genauer hingucken und ermunternd feststellen, dass es sich um eine Steigerung von 300 Prozent in einem relativ kurzen Zeitraum handelt. Also zu registrieren, und da ist die Väterzeit ja nur ein Detail unter vielen, dass es zumindest zarte Pflänzchen männlicher Rollenemanzipation gibt; Pflänzchen, das gebe ich zu, die Frauen und Männer gemeinsam sorgfältig gießen müssen.


zur Person des Referenten

Dr. Thomas Gesterkamp lebt als Journalist und Buchautor in Köln.
Studium der Soziologie, Pdagogik und Publizistik, Promotion in Politikwissenschaft über "Männliche Arbeits- und Lebensstile in der Informationsgesellschaft".
Beiträge im Hörfunk, Texte in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Sammelbänden und Fachzeitschriften. Daneben Tätigkeit als Referent, Hochschuldozent, Moderator und in der Weiterbildung; über 300 Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen im deutschsprachigen Raum.
Mitarbeit im "Männer-Väter-Forum Köln"; Mitbegründer des "Väter-Experten-Netz Deutschland" (VEND).

Buchveröffentlichungen:
"Hauptsache Arbeit? - Männer zwischen Beruf und Familie" (mit Dieter Schnack), Rowohlt Verlag, Reinbek 1996, Neuauflage als Taschenbuch 1998.
"Vater, Sohn und Männlichkeit" (u.a. mit Wassilios Fthenakis), Tyrolia Verlag, Innsbruck/Wien 2001.
"Gutesleben.de - Die neue Balance von Arbeit und Liebe", Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002.
"Die Krise der Kerle - Männlicher Lebensstil und der Wandel der Arbeitsgesellschaft", LIT-Verlag, Münster 2004.

Kontakt:
Thomas Gesterkamp, Theodor-Schwann-Str. 13, 50735 Köln.
Telefon/Fax: 0221-7604899. E-Mail: thomas.gesterkamp@t-online.de

Samstag, 26. Dezember 2009

Der entfremdete Mann

Universität Potsdam
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
Institut für Frauen- und Geschlechterforschung
Seminar: Geschlechterverhältnisse heute Hochschulsemester: 4

Seminararbeit

Der entfremdete Mann -
Für eine Emanzipation der Männer

Verfasserin: Manuela Fiedler

M.A. Linguistik; Soziologie, Medienwissenschaften

Abgabe: 31.03.2003

Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung 3
1.2 Der Weg zum Mann 5

2.1 Geschlechterpolarisation 5
2.2. Traditionelle Männlichkeit 6

3. Wandlungsprozesse 7
3.1 Auswirkungen traditioneller Männlichkeit 7
3.2 Männer im Wandel 12

4. Ausblicke 16

5. Literaturverzeichnis 20

1. Einleitung:
Helen Franks schrieb noch 1985 in ihrem Werk ,,Goodbye Tarzan. Der endgültige Abschied vom Macho-Mann.": ,,Es ist eine Ironie, aber vielleicht keine Überraschung, daß ich bei den Nachforschungen zu diesem Buch gezwungen war, unter dem Stichwort ,Frauenforschung` nachzuschlagen, um etwas über die heutigen Männer zu erfahren."1
Das Thema Männlichkeiten und Mannsein war in den 70ern ein noch so gut wie unbekanntes Thema. Dies jedoch änderte sich in den letzten 20 Jahren, denn seit Anfang der 90er boomt die Männerbewegung, die akademische Forschung sowie die Zahl der Veröffentlichungen.2 Der feministische bzw. akademische Blick allgemein wurde seitdem auf die Männer ausgeweitet, auf deren Rolle innerhalb des Prozesses der Gleichberechtigung und Konzeption eines neuen Geschlechterverhältnisses sowie ihre spezifischen Lebenszusammenhänge und -umstände.

Denn heute scheint nicht länger eindeutig zu sein, was ein ,,richtiger" Mann ist oder zu sein hat oder was Männer überhaupt auszeichnet. Was sich in den letzten Jahren entwickelte, war ein kritischer Blick auf den Mann, woraus sich einige Fragen ergaben: Welchen Veränderungsprozessen sehen sich Männer heute gegenüber und wie gestalten sich diese aus der Perspektive der Männer? Wie sehen deren Reaktionen darauf aus? Welche Auswirkungen haben die Vorstellungen von traditioneller Männlichkeit auf die Männer selbst? Was bedeutet dieser Umwälzungsprozess konkret für Männer? Gibt es sie - die ,,neuen Männer"? Was bedeuten die Veränderungen zwischen den Geschlechtern für den Prozess der Gleichberechtigung wie für die akademische Forschung?

Meine Thesen dazu sind folgende:
Erstens: Die Umbrüche, die wir momentan miterleben, bergen auch ein für Männer immenses Potenzial an Befreiung von Zwängen und zur Neufindung einer positiven Männlichkeit.
Zweitens: Dieser selbstreflexive Prozess, auf den die Männer zusteuern, ist eine notwendige Bedingung für das Gelingen der Gleichstellung.

Im Folgenden werde ich zur Klärung dieser Fragen und Thesen anhand ausgewählter Fachliteratur einen kurzen Überblick über traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit und deren Ursprünge geben. Daran anschließend werde ich kurz beschreiben, welchen sozialen Umwälzungsprozessen sich Männer und Frauen seit einigen Jahrzehnten gegenüber sehen. Im Hauptteil meiner Arbeit geht es darum zu beschreiben, welche Auswirkungen die an die Männer gestellten traditionellen Rollenerwartungen auf diese selbst haben (deren Auswirkungen auf Frauen sind ja bereits deutlich dargelegt), wie sich die Reaktionen auf diese Umwälzungsprozesse darstellen und wie sich Ansätze einer konstruktiven Auseinandersetzung damit gestalten. Schließlich wird es in meiner Arbeit auch darum gehen, einen Blick auf die daraus entstehenden Chancen - für Männer selbst, für Frauen, die Gesellschaft allgemein - zu werfen.

2. Der Weg zum Mann:

Das folgende Kapitel soll einen kurzen Überblick über die Ursprünge jener Rollenerwartungen geben, denen sich Männer heute gegenüber sehen.

2.1 Geschlechterpolarisierung:
Es ist nachgewiesen, dass sich Frauen und Männer in den ersten Jahrtausenden unserer Geschichte ,,charakterlich und in ihrem humanen Potenzial nicht voneinander unterschieden."3 Der Polarisierung der Geschlechter ging dabei nach Karin Hausen4 die Herausbildung von Geschlechtscharakteren voraus, die sie als die ,,mit den physiologisch korrespondierend gedachten psychologischen Geschlechtsmerkmale" bezeichnet, deren Kraft darin bestehe, bestimmte Verhaltensmuster gesellschaftlich vorgeben zu können. Den Hintergrund hierfür bildete der ,,Übergang vom ,ganzen′ Haus zur ,bürgerlichen Familie′" im Zuge der Auflösung agrarischer Gesellschaften mit Beginn der Industrialisierung, mit dem sich eine tendenzielle Auflösung der Ehe und Familie als Institution und damit auch der Rolle des Mannes als Haushaltsvorstands verband. In der Folge kam es aufgrund eines ,,akuten Orientierungs-bedürfnisses" zu einer Suche nach einem restaurativen Familienbegriff, in der den ,,natur-gegebenen Gattungsmerkmalen" die Funktion des die Familienverhältnisse restabilisierenden Orientierungsmusters zukam. Die Konstruierung einer unterschiedlichen, besser : hierarchischen Qualität der Geschlechter diente dabei auch ,,zweifellos" der ,,Absicherung von patriarchalischer Herrschaft" bzw. der rechtlichen Privilegierung der Männer. Das dialektische Wechselspiel zwischen Normativität und Realität und die damit einhergehende tatsächliche Auseinander-entwicklung von Verhaltensweisen boten sich im Anschluss an, das bestehende System zu legitimieren.

Für unsere Gesellschaft ist Geschlecht heute eines der zentralen Ordnungskriterien überhaupt, welches die Interpretation jeglichen Verhaltens steuert und spezifische Zuwendungs- und Verhaltensmuster herausbilden lässt. Hier ist es der große Zweig der Sozialisationsforschung, der sich der Untersuchung der Einflüsse gesellschaftlicher Erwartungshaltungen und Ideologien auf das Individuum selbst widmet.

Bevor ich kurz zusammenfasse, welche Bilder traditionelle Ideologien von Männlichkeit malen, möchte ich noch kurz darauf eingehen, was den Hintergrund der Vorstellungen von hegemonialer Maskulinität bildet. Denn wie sich noch deutlicher zeigen wird, basieren diese an erster Stelle auf der Abwertung und Abspaltung alles weiblich Konnotierten. Zur Erklärung dieser Tatsache werden von der Literatur zwei Erklärungsansätze geboten.5 Zum einen sei diese Herabsetzung begründet in der archaischen Angst vor den kreativen weiblichen Fähigkeiten des Empfangens, Gebärens und Stillens. Zum zweiten wird der Prozess der Sozialisation der Jungen zur Erklärung herangezogen:
Die räumliche, geistige und emotionale Entfernung des Vaters in der Industriegesellschaft hat eine wachsende Abhängigkeit des Jungen von der Mutter zur Folge. Das Fehlen des Vaters als wichtiges Rollen-Modell zwinge den Jungen zu einer ,,Umweg-Identifikation", das heißt, er müsse ,,unmännliche" (sprich: ,,weibliche") Eigenschaften opfern, um sich abzugrenzen. Die Mutter wird für den aufwachsenden Jungen also zunehmend zu einer ambivalenten Figur, zu der er sich einerseits stark hingezogen fühlt, sich andererseits jedoch gezwungen sieht, sich aus dieser Symbiose zu verabschieden. Dies habe die Verleugnung der zentralen Abhängigkeit von der Mutter zur Bildung eines als ,,nicht-weiblich" verstandenen Männlichkeitskonzeptes zur Folge. Das heißt, als männlich gilt, was nicht weiblich ist.6

2.2 Traditionelle Männlichkeit:
Traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit, die vor diesem Hintergrund geprägt worden sind, werden in wenigen treffenden Worten anhand der 7 männlichen Imperative von Herb Goldberg beschrieben, die da sagen: 1. Je weniger Schlaf ich benötige, 2. je mehr Schmerzen ich ertragen kann, 3. je mehr Alkohol ich vertrage, 4. je weniger ich mich darum kümmere, was ich esse, 5. je weniger ich jemanden um Hilfe bitte, 6. je mehr ich meine Gefühle unterdrücke und kontrolliere, 7. je weniger ich auf meinen Körper achte, desto männlicher bin ich.7 Oder wie Robert Brannon und Deborah David das männliche Leitbild beschreiben: ,,No sissy stuff" (die Ablehnung alles weiblich Konnotierten), ,,the big wheel" (Erfolgszwang, Leistung, Kampf, Status, Wettbewerb), ,,the sturdy oak" (Unbesiegbarkeit, Zähigkeit, Standfestigkeit) und ,,giv′em hell" (Aggressivität, Mut, Durchsetzungskraft).8

Und so ist Männlichkeit historisch schließlich zusammengewachsen mit dem Bild eines ,,Homo faber, (...) der kein Risiko scheut und jeder Gefahr mutig entgegentritt, der Herausforderungen als selbstverständlich annimmt und die äußere Welt mit seiner Leistung prägt."9

3. Wandlungsprozesse:

3.1 Auswirkungen traditioneller Männlichkeit:

Traditionelle Männlichkeit beinhaltet zwar auch heute durchaus noch solche Aspekte wie Macht, Gehorsam, Prestige und Status, doch übersehen wird leicht, dass nur eine Minderheit von Männern in den ungeteilten Genuss solcher Privilegien gelangt, sich jedoch jeder Mann an den Maßstäben jener gesellschaftlichen Rollenerwartungen messen lassen muss. Für die Mehrheit der Männer ist daher aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen nicht etwa Überlegenheit, sondern Unterlegenheit eine charakteristische Lebenserfahrung.
Der Begriff ,Patriarchat` verdeckt diesen Umstand, da er suggeriert, alle Männer seien gleich in ihrer Privilegiertheit, weswegen heute auch eher die der Versämtlichung entgegentretende Bezeichnung der ,,hegemonialen Männlichkeit"10 von Robert Connell bevorzugt wird.
Zwar profitiert gegenüber einer Frau auch der rangniedrigste Mann noch von seiner Rolle als derselbige, jedoch hat traditionelle Männlichkeit auch ihren Preis:

Mit dem bereits umrissenen Prozess der Geschlechterpolarisierung und der damit einhergehenden Polarisierung der Lebenssphären in ,Innen` und ,Außen` wurde Erwerbstätigkeit eines der zentralen Momente der Konstitierung von männlicher Identität. Und auch heute noch ließe sich nach Möller bei den meisten Männern eine starke Erwerbszentrierung in deren Lebensplanung feststellen, d.h. bei Männern gehört Berufstätigkeit zur Normalbiographie und wird - anders als bei Frauen - schlichtweg von ihnen erwartet.11 In unserer durch die Industrialisierung geprägten Arbeitswelt bedeutet dies jedoch ein Gefangensein in den Anforderungen einer ,,Disziplinargesellschaft"12, die gekennzeichnet sei durch die Vorgaben des maschinellen Rhythmus, von der ,,Gesetzlichkeit von Ökonomie, Präzision, Effizienz, Organisation und standardisierten Leistung"13, der Trennung von Lebens- und Arbeitsort, von technisierten und standardisierten Arbeitsabläufen, der Unterwerfung unter industriellen Zeitplan (Hollstein 53) und Bürokratie zur Kontrolle und fremdbestimmten Einordnung des Individuums in einen von ihm abgespaltenen Lebensrahmen.14

Diese einseitige Fixierung des Mannes auf den Bereich der Erwerbstätigkeit läßt ihn schließlich die in dieser Sphäre hinderlichen Fähigkeiten abspalten und vergessen; der Mann habe dabei seine Ganzheit ebenso aufgeben müssen wie das die Frau auf ihre Weise zu tun gezwungen war.15 Die in der Frauenforschung durch Elisabeth Beck-Gernsheim entstandene Bezeichnung des ,,halbierten Lebens"16 läßt sich somit für die Beschreibung männlicher Lebenswelten weiter verwenden.

Es wird also hier schon deutlicher, dass auch Jungen und Männer in einem Gesellschaftssystem aufwachsen, das ihnen nicht schrankenlos die Möglichkeit der freien Entfaltung bietet. Wie Helen Franks formuliert, vergessen wir oftmals, dass es nicht leicht für diese ist, jenen ,,Vorstellungen nachzueifern, und sie haben einen ziemlich üblen Einfluß sowohl auf jene, die tatsächlich danach leben können, als auch auf jene, die es nicht können."17 Die rigide geschlechtsspezifische Zuschreibung bringe ,,Pervertierungen des menschlichen Wesens in zwei einander gegenüberliegende Richtungen" hervor.18 In der Konsequenz daraus verzerrt ein derart entstelltes Bild von Männlichkeit auch jeden Mann durch dessen Bemühen, diesem zu entsprechen.
Es geht also darum zu verstehen, wie anstrengend die traditionelle Männerrolle von Leistung, Macht, Konkurrenz und Härte gerade auch für ihre männlichen Träger ist. Das heißt, es wird immer klarer, dass das männliche Prinzip in seiner Vereinseitigung sich als Bürde für den Mann selbst erweist.
Mittlerweile hebt die Männerforschung die Zwanghaftigkeit männlicher Verhaltensweisen als deutlichsten Indikator der männlichen Krise in unserer spätindustriellen Gesellschaft hervor. Die Forschung des amerikanischen Sozialmediziners James O′Neil fasst die Schattenseiten des Männerlebens so zusammen19:

Eingeschränktes Gefühlsleben:
Erkenntnisse der Erziehungsforschung zeigen, dass bereits in den frühesten Sozialisationsphasen Jungen wie Mädchen entsprechend herrschender Geschlechterstereotypen erzogen werden. Das beinhaltet zum Beispiel auch, dass Jungen bedeutend seltener als Mädchen umarmt, geküßt und festgehalten, dafür aber mehr als doppelt so viel geschlagen und geprügelt werden.20
Eine Abspaltung aller Eigenschaften vom Männlichen, die im modernen Arbeitsleben nicht förderlich wären, wie Verletzlichkeit, Emotionalität, Hingabe, Fürsorge oder Mitgefühl ließe sich im weiteren Verlauf der Sozialisierung feststellen.21 Betrachtet man des Mannes Stellung innerhalb der Familie, zeigt sich daher oft, dass der traditionelle Familienvater eine Außenseiterrolle in der eigenen Familie ,,mit sporadischen Auftritten als Disziplinaragent oder als Freizeiterscheinung"22 einnimmt.
Zusammengefasst bedeutet dies, dass die traditionelle männliche Rolle eine Entfernung von den sozialen und emotionalen Bedürfnissen der Zwischenmenschlichkeit und die Opferung eigener Bedürfnisse, Ideale und Werte zugunsten Hierarchiedenken und Verpflichtung erfordert. Traditionelle Männlichkeit verlangt im Grunde also die Beherrschung der eigenen vitalen Kräfte, hat aber letztlich Isolation, Entfremdung, Zwang zu emotionaler Kontrolle, Genussunfähigkeit sowie Verzicht auf Vielfalt und Selbstentwicklung zur Folge.23 Die ,emotionale Verkrüpplung` als Bestandteil des traditionellen Männerbilds, die Anforderungen nach Autonomie, Stärke und Unempfindlichkeit bezeichnet Cheryl Benard demnach als ,,destruktive und falsche Elemente in der Pervertierung des männlichen Menschen."24

Homophobie:
Dieser Begriff bezeichnet die viele Männer beherrschende Angst vor Nähe zu anderen Männern. Es ist die strikte Heterosexualitätsnorm unserer Gesellschaft als Ausdruck der Abwehr alles ,,Weiblichen", die schließlich Intoleranz gegenüber Zärtlichkeiten zwischen Männern hervorruft. Dadurch wird echte Intimität und Vertrauensbindung zu anderen Männern verhindert.

Kontroll-, Macht- und Wettbewerbszwänge:
Dies meint, dass sich traditionelle männliche Identität ihren Selbstwert über Erfolg, Leistung, Konkurrenz und Herrschaft bezieht und dies solchen Aspekte wie Ethos, Mitmenschlichkeit, Fürsorge, Empathie und Liebe entgegentritt. Es bezeichnet auch die herrschende Rationalitäts- und Machbarkeitsorientierung sowie den Zwang, Situationen und Mitmenschen beherrschen zu müssen. Die Delegierung und Umwertung seiner abgespaltenen Persönlichkeitsmerkmale an die Frau und die daraus enststehende Abhängigkeit von ihrer Beziehungsarbeit bedeute daher einen Machtverlust für Männer (Hollstein 59), was den Zwang zur Disziplinierung und Unterwerfung der Frauen als Garanten für emotionale Kompensation nur befördere.25

Gehemmte Sexualität und Affektivität:
Auch Sexualität und Erotik werden von Zärtlichkeit und Emotionalität abgespaltet und erlebt unter dem Aspekt von Dominanz und Aggressivität. Viele Männer betrachten Sex daher weniger als Kommunikation, sondern eher als Reiz-Reaktionsgeschehen, was auch der zunehmend kritisierten instrumentellen Leistungs- und Genitalfixierung vieler Männer entspricht.

Sucht nach Leistung und Erfolg:
,,Ihr Leben ist Tun und Haben, nicht Lassen und Sein." schreibt Walter Hollstein über Männer.26 Das Mann-Sein muss immer wieder neu erfahren und bewiesen werden, es ist abhängig von äußeren Beweisen des Erfolgs. Macht schaffe Privilegien, jedoch seien Mächtige oft Sklaven ihrer Macht, workaholics und fühlten sich nur während exzessiver Arbeit lebendig.27 Es bleibt also wenig Zeit für Entspannung, Muße, Kreativität oder Besinnung. ,,Die amerikanische Männerforschung weist aus, daß heute gerade jene Männer, die noch immer das traditionelle Erwartungsprofil von Erfolg, Ehrgeiz, Unverletzlichkeit und Panzerung zu leben versuchen, die allerkränksten sind. Da sich diese Männlichkeitsmaschinen des weiblichen Prinzips völlig entledigt haben und von daher keine Innerlichkeit mehr besitzen, sind sie zur Organisationsschraube verkommen."28 Dieses aktionistische Männerbild wird von Hollstein durch den Begriff der ,,Männlichkeitsmaschine" gebrochen: ,,Er macht das, was von ihm erwartet wird; er stellt öffentliche Notwendigkeiten vor seine persönlichen Bedürfnisse und dementsprechend letztere immer zurück. Der Mann als Männlichkeitsmaschine ist dafür ,konstruiert`, konsequent zu arbeiten, Leistung effizient zu erbringen, objektive Schwierigkeiten zu überwinden, alle Probleme zu lösen, jede Aufgabe willensstark anzugehen und richtig zu erledigen. Sieg ist der Männlichkeitsmaschine alles."29

Mangelndes Körperbewusstsein:
Wie bereits durch die ,,7 männlichen Imperative" Goldbergs angedeutet, mangelt es vielen Männern an Wertschätzung für ihre eigene Körperlichkeit. Die Mißachtung körperlicher Signale, der psychischen wie physischen Gesundheit gilt als männlich, Arztbesuche dagegen werden eher als Schwäche begriffen. Männer betrachten ihren Körper oft als Maschine, die zu funktionieren habe. Die Apparatemedizin gilt an dieser Stelle als ein schönes Beispiel für diese Instrumentalisierung des eigenen Körpers. Das heißt, die des öfteren - gerade von Männern - belächelte Vorstellung von der Ganzheit von Körper, Seele und Geist` ist ihnen genommen worden. Die Folge: Männer sind öfter und schwerer krank als Frauen und sterben durchschnittlich acht Jahre früher.

Gewalt:
Hier möchte ich noch einen siebten - von O`Neil nicht explizit erwähnten - Aspekt einfügen, den der Gewalt. Hierzu meint Möller, dass die auf der Abwertung von Frauen und Jüngeren basierende hegemoniale Männlichkeit unseres Systems Gewalt mit dem Mann-Sein kopple.30 Nehme man sozio-demographische Daten zu Alter und Geschlecht von TäterInnen zur Grundlage, so handele es sich besonders deutlich bei Gewalt und Rechtsextremismus anscheinend um Männlichkeitsprobleme, da rund 90% - beim Rechtsextremismus sogar ca. 95% - der TäterInnen männlich seien. Diese männliche Dominanz im Bereich der Gewalttätigkeit sei für ihn ,,gänzlich unübersehbar."31.

Alle diese Symptome ließen sich grundsätzlich auf die Angst des Mannes vor Weiblichkeit zurückführen.32 Die Definition von Männlichkeit bedingt die Distanz zur Weiblichkeit und verlangt dementsprechend, was gesamtgesellschaftlich als nicht weiblich gilt: Kontrolle, Härte, Unerschütterlichkeit, Wettbewerb, Leistung und Herrschaft. Traditionelle Männlichkeit sei daher ,,erkauft durch den Verzicht auf weibliche Eigenschaften."33
Der Männerforscher Herb Goldberg meinte hierzu: ,,Es ist für Männer eine tragische Tatsache, daß Einstellungen und Verhaltensmuster, die einen Menschen zerstören, für ausgesprochen männlich gelten, während das, was für persönliche Verwirklichung und Menschsein wichtig ist, weiblich genannt wird."34 Männer mögen daher von außen noch als das erfolgreiche Geschlecht bezeichnet werden, ein glückliches Geschlecht sind sie wahrscheinlich nicht. Die Männerforschung ist darum mittlerweile zu der Einsicht gelangt, daß die männliche Rolle gefährlich ist - nicht nur für Frauen, Kinder und die Natur, sondern auch für ihre Träger selber.
Es nimmt daher nicht wunder, dass sogar die Frage nach der sozialen Verträglichkeit von Männern aufkommt.35 Bei Cheryl Benard lässt sich sehr gut nachlesen, mit welcher Ironie und negativer Kritik heute bereits traditionelle Männlichkeit bedacht wird:

,,Sie mögen einem leid tun, aber trotzdem ist es nicht angenehm, mit ihnen zusammenzuleben. Ihre immer gleichen Witze sind langweilig. Sie sind ständig beleidigt, gekränkt oder zornig. Sie fühlen sich immer herabgesetzt. Sie wieder zu beruhigen und psychisch wieder aufzubauen, ist anstrengend und zeitraubend. (...) Unter sich sind sie hilflos. Sie verfallen in hysterische Zustände. Glotzäugig und heiser starren sie Kellnerinnen nach und brüllen einander an. Ständig reden sie über Busen und Beine. Sie kaufen sich Bilderbücher, in denen sie selbige anschauen können.Manchmal stundenlang. Wenn sie nicht bekommen, was sie haben wollen, klopfen sie auf den Tisch und rufen Sätze wie: Hier habe immer noch ich die Hosen an! Diese modischen Hinweise sollen dazu beitragen, eine Konfliktfrage zu lösen. Oder sie sagen: Schließlich bringe ich das Geld nach Hause. Sie sind oftmals sehr unausgeglichen. Es muß schwierig sein, als Person dieser Art durchs Leben zu gehen."36

Konnten sich Männer also noch bis vor wenigen Jahrzehnten kritiklos mit der männlichen Rolle und ihrem Rollenbild identifizieren, so scheinen Frauen, die Frauenbewegung, Wissenschaften, Medien und bisweilen die breite Öffentlichkeit nur noch negative Assoziationen mit traditioneller Männlichkeit zu verbinden. Ein Blick in die Medien, und der Mann tritt uns unübersehbar oft als Zerstörer, Kriegstreiber, Vergewaltiger, Kinderschänder oder Pornograph entgegen. ,,Was also gegenwärtig an Männerbildern kursiert, lädt nicht mehr zur Orientierung und Identifikation ein."37
Diese Umstände und die Tatsache, dass sich immer mehr Männer ihrer enteigneten und entleerten Persönlichkeit bewusst werden, scheinen die Voraussetzungen dafür zu sein, dem von der Frauenbewegung initiierten Wandel seine Eigendynamik zu verleihen.

An dieser Stelle sei noch kurz auf die Forschung des Sozialkonstruktivismus verwiesen, die bereits in Bezug auf Frauen aufzeigte, dass Vorstellungen von Geschlechtstypik und dementsprechendem Verhalten in der Regel anerzogen und erlernt sind, was sich in der Trennung von biologischem ,,sex" und sozial konstruiertem ,,gender" auch begrifflich niederschlug. Die Bedeutung dessen liegt vor allem darin, dass jene Verhaltensweisen daher größtenteils keine festen, biologisch verankerten Wesensmerkmale aller Männer, sondern durchaus zur Revision fähig sind.38 Die Chance darin liegt, wie Carol Hagemann- White es formuliert, dass wenn ,,sich das, was uns als normal, natürlich, unhinterfragt erscheint, als selbstgemachte Konstruktion erweist, sind diese Konstruktionen auch veränderbar."39

3.2 Männer im Wandel:

Der Wandel im Selbstbild der Frauen und der Sicht auf die sie umgebenden Männer und die von ihnen gebildeten Strukturen, die gesellschaftlichen Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung und nicht zuletzt die zunehmende Entwertung der männlichen Erwerbsbiografie40 setzten in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Umwälzung in Gang, die Männer verunsichert, ihre bisherige Rolle angreift und zum Einstürzen bringt. Die bisherige Ordnung wankt, das Korsett traditioneller Männlichkeit hält nicht länger.
Auf Druck der Frauen- und Schwulenbewegung, der Modernisierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen lösen sich bisherige Selbstverständlichkeiten auf; das heißt: Normalarbeitsverhältnisse, die Normalität der Ernährerrolle des Mannes, Normalfamilien, die Normalität des männlichen Bildungsvorsprungs, die Normalität deren politischer Dominanz, ebenso wie die Normalität der das System stützenden Werte- und Normensysteme.41
Und es zeigt sich dabei immer deutlicher: ,,Wir kennen uns kaum. (...) Nachdem sich die traditionelle Männlichkeit immer mehr auflöst, können wir auch nicht mehr beantworten, was das Mannsein eigentlich beinhaltet. Wir sind zum unbekannten Wesen geworden."42

Mit der zunehmenden Kritik an traditioneller Männlichkeit sehen sich Männer dem Zusammenbruch eines Geschlechtervertrages gegenüber, auf den nichts sie vorbereitet hat und dem sie nichts entgegenzusetzen haben. Identität hieße nach den Worten des Männerforschers Tim Rohrmann, das eigene Handeln in der Sicherheit über die eigenen Gefühle verankert zu sehen. Fehle diese jedoch, so würden Veränderungen an Bedrohlichkeit zunehmen.43 Die derzeit statt findende Konfrontation mit dem mehr als wackligen männlichen Selbstkonzept und die dadurch entstandene Rollenunsicherheit provozieren verschiedenste männliche Reaktionsformen. Walter Hollstein fasst dieses Spektrum so zusammen: ,,Es gibt ein Lager, das will, ein Lager, das nicht will, und ein Lager, das nicht so recht will, aber weiß, daß es irgendwie wollen muß."44

Viele Männer reagieren zum Beispiel, als hätten Feministinnen vorgeschlagen, von nun an die Männer zu Hausarbeit zu verdammen und Frauen die Dominanz in Politik, Wirtschaft und Medien zu verschaffen, doch nur wenige haben sich bis jetzt tatsächlich ohne solche Verzerrungen mit deren Vorschlägen befasst. Erst wenige haben sich dazu durchgerungen, an mögliche Alternativen bezüglich ihrer eigenen Person zu denken, das heißt, die Inhalte der feministischen Argumente im Hinblick auf ihr eigenes Leben zu untersuchen.
,,Eine soziale Revolution spielt sich ab, und doch tun die Männer alles, um sie zu ignorieren, in der Hoffnung, daß sie eine vorübergehende Modeerscheinung ist und verschwinden wird. (...) Obwohl sich hier und da einige männliche Stimmen diesen Herausforderungen stellen, besteht die typische Reaktion, sich der Veränderung zu widersetzen, darin, sich über die Frauenbewegung zu ärgern, sie zu ignorieren oder zu verachten."45 (Franks 13)

Diese Ängste und Verunsicherungen sind nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, in welche Abhängigkeit von der emotionalen Versorgung durch Frauen das vereinseitigende männliche Identitätskonzept die Männer getrieben hat.

,,Hier holt uns die Geschichte wieder ein: Was wir einst im Prozeß männlicher Beherrschung der Welt an Qualitäten der Pflege, Liebe, Emotionalität und Besinnung auf uns selbst an die Frauen delegiert haben, können wir nun nicht mehr selber (...) Deshalb ängstigt uns über alle Maßen die Emanzipation unserer Frauen."46

Nicht selten führen derartige Verunsicherungen auch zu Phänomenen, die als Überkompensation von Männlichkeit oder auch Pseudo-Maskulinität bezeichnet werden. Diese sind bezeichnenderweise gerade bei ihrer Maskulinität sehr unsicheren Männern festzustellen, was sich unter anderem in verstärkter Verteidigung männlicher Hegemonie und der Zurschaustellung (überkommener) Maskulinitätsmuster wie Territorialkämpfen, sexueller Konkurrenz, Männlichkeitsbeweisen, etc. äußere.47

Während Feministinnen allerdings bereits aufgezeigt haben, wie verdummend und hemmend dergestalte stereotype Bilder auf das Leben von Frauen wirken, scheint es den meisten Männern entgangen zu sein, daß auch sie meist banal und eingeschränkt gezeigt werden.
Und so liegt auch eine große Chance für Männer in diesem Prozess, da sie zum ersten Mal seit Jahrhunderten die Möglichkeiten haben, das einengende und selbstschädigende Korsett ihrer Rolle in Frage zu stellen, aus ihm auszubrechen und sich damit auch zum ersten Mal so zu erleben, wie sie wirklich sind, statt sich von außen definieren zu lassen und so gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen zu unterliegen. Sie könnten diese Gelegenheit nutzen, um sich auf die Suche nach ihrem gesellschaftlich verwehrten Innen zu begeben. Ihnen eröffnet sich hier die Möglichkeit, den gravierenden Mangel an Selbstreflexion, dieses männliche Defizit an Selbstkritk, Introspektion und auch Besinnung auf sich selbst auszugleichen48, denn nicht etwa vorgegebene Verhaltensmuster, sondern das Fehlen von eben solchen erlaubt erst die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit. Das heißt - um gemäß den Worten von Rosa Mayreder zu sprechen - man wird erst wissen, was die Männer sind, wenn ihnen nicht länger vorgeschrieben wird, was sie sein sollen.49
Zugleich zeichnet sich mit diesen Gedanken bereits das Bild einer Neuordnung männlicher Beziehungen zu anderen Menschen ab: In diesem Zusammenhang sei unter anderem der Männertyp des ,neuen Vaters` erwähnt50, die Aussicht auf das Entstehen von konkurrenzfreien Freundschaftsbeziehungen zwischen Männern und nicht zuletzt die Hoffnung auf ein partnerschaftlicheres und kreativeres Verhältnis zwischen Männern und Frauen, geprägt von gleichberechtigtem finanziellen wie emotionalen Austausch.

Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle jedoch, dass dieser Prozess erstens nur allmählich seinen Weg nimmt und darüber hinaus von einigen Schwierigkeiten begleitet wird. Denn Männer sehen sich drei Dilemmata gegenüber, von denen sie bei einer Neukonzeption ihrer Identität behindert werden:51
Erstens: Jungen und Männer müssen sich zum Teil auch heute noch an hegemonialer Männlichkeit und der damit einhergehenden Zerstörung des sozialen Zusammenhalts sowie der eigenen wie der Gesundheit anderer orientieren, da ihnen sonst die gesellschaftliche Desintegration bei Abwendung von derselben droht, da sich Mann-Sein ja gerade auf Basis der Abwehrens alles weiblich Konnotierten gründet und daher Änderungsversuche von Männern stärker als bei Frauen noch sanktioniert werden.
Zweitens: Die gleichzeitig immer stärkere Stigmatisierung traditioneller Männlichkeit als sozial unverträglich und dysfunktional schafft ein Paradoxon der Integration beider Modelle in einem Individuum.

,,Litten bis dahin nicht wenige Männer bewußt oder unbewußt an der Eindimensionalität ihrer Rolle von Härte, Leistung, Erfolg und ,Pokerface`, so gerieten sie jetzt vermehrt in das Dilemma, diese harte Rolle im Berufsleben weiterhin einnehmen zu müssen, aber zu Hause eine neue, teils verdrängte, auf jeden Fall weichere Rolle des Einfühlens, der Flexibilität, des Nachgebens, ja des Erduldens lernen zu müssen."52

Dieser Ambivalenz der an Jungen und Männer gestellten Erwartungen sehen sich diese mehr und mehr ausgesetzt.
Drittens: Was die Situation noch verschärft ist die Tatsache, dass derzeit noch keine oder nur dürftige Alternativen, das heißt gesellschaftlich entsprechend anerkannte Männlichkeitsbilder und Orientierungsmuster, vorhanden sind.
Möller umschreibt die heutige Situation mit dem treffenden Begriff des ,,Männlichkeits-Spagats" : ,,Auf der einen Seite soll man(n) jemand sein, der man nicht sein kann; auf der anderen Seite kann man(n) nicht jemand sein, der man nicht sein will."53

4. Ausblicke:

Auf den ersten Blick mag manchem oder mancher eine an dieser Stelle vorgeschlagene spezielle Männerforschung überflüssig vorkommen, da der Wissenschaftsbetrieb doch sowieso eine fast ausschließlich männlich geprägte Angelegenheit zu sein scheint. Dies drückt den Verdacht aus, Männerforschung wolle der Aufrechterhaltung der männlichen Hegemonie noch zuarbeiten und diese noch zementieren.54 Diese Ansicht widerspricht völlig deren Anliegen, denn das Ziel kritischer Männerforschung ist es vor allem, etwas bisher fast vollkommen Vernachlässigtes zu vollbringen: Männer und ihre Lebenszusammenhänge kritisch und selbstreflexiv zu betrachten. Weshalb dies so immens wichtig ist - für Männer selbst und ebenso für Frauen - erklärt Kurt Möller so: ,,Die geschlechtsspezifischen Ungleichgewichte hängen basal damit zusammen, daß immer noch weithin das Männliche mit dem Menschlichen schlechthin gleichgesetzt wird." Das Männliche erscheine so als das ,,Geschlecht ohne Geschlecht."55 Erst dieser neuartige Prozess männlicher Selbstreflexion und damit Infragestellung der männlichen Suprematie kann dem ein Ende setzen. Ohne beginnende männliche Selbstreflexion könnte Feminismus also auch weiterhin als Revolte einer ewig nörgelnden ,,Minderheit" mißverstanden werden.

Das meiste Wissen über die Lebenszusammenhänge und -zwänge von Männern ist durch die Öffnung des feministischen Blicks auf eben jene erarbeitet worden. Verändert hat sich hier vor allem eines: ,,Wurde in den Anfängen feministischer Forschung davon ausgegangen, die Frauen seien als Problemgruppe zu begreifen, so besteht heute Konsens darüber, daß die in unserer Gesellschaft dominante Vorstellung von Männlichkeit problematisch ist."56 Dass die meisten Männer nicht merken wie unsozial und einsam, lustfeindlich, unglücklich und gefühlsarm sie sind, liegt jedoch auch daran, dass Frauen sich mitunter daran beteiligen, alte Männerbilder zu stützen. Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle ebenfalls, dass durchaus auch auf akademischer Seite die Tendenz zum Festhalten an einem negativen Männerbild und zur Weigerung, einen differenzierten Blick auf unterschiedliche Männlichkeiten zu werfen, festzustellen ist. In der Konsequenz für die feministische Forschung bedeutet dies, dass die Notwendigkeit besteht, von alten geschlechtsspezifischen Feindbildern oder Zuschreibungen57 abzukehren, denn die an mancher Stelle vertretene Position, ,,daß jeder Mann zwangsläufig Unterdrücker oder gar Vergewaltiger ist, ... [führt] letztlich zu politischer Handlungsunfähigkeit."58

Geschlechterforschung wird jedoch zunehmend auch von Männern und von Frauen betrieben. Diese - historisch betrachtet - neue Tendenz, macht es erst möglich, die Geschlechterverhältnisse aus unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkeln - will sagen: vollständig - erfassen zu können. Wenn beide Geschlechter über beide Geschlechter forschen, so besteht die Chance, der Vernachlässigung relationaler Perspektiven entgegenwirken und ebenso eine erneute Trennung nach Geschlecht verhindern zu können.

Die zweite Ebene, die mit der vorherigen in Austauschbeziehung steht, ist die ,,Männerszene". Sie besteht hauptsächlich aus Vereinigungen wie Männergruppen, Beratungstellen oder politischen Initiativen. In diesen Treffpunkten für Männer geht es darum, deren soziale Einsamkeit, ihr Konkurrenzverhalten, etc., welche ihm durch die gesellschaftlich herrschenden Vorstellungen von Männlichkeit auferlegt werden, kritisch zu diskutieren und aufzuarbeiten. Der Erfahrung von erlebter Solidarität, Mitgefühl und Offenheit unter Männern kommt hier eine wesentliche Rolle in der Erweiterung deren Erfahrungswelten zu. Der daran anschließende Schritt müsse nach Walter Hollstein sein, aus dem ,,Ghetto" bewusster Männer hervorzukommen und auch jene mit Argumenten der Männerszene zu konfrontieren, die einer Auseinandersetzung mit der männlichen Rolle bisher ausgewichen sind. Wichtig dabei sei es immer, es nicht bei bei bloßer Kritik zu belassen, sondern immer auch konstruktive Vorschläge zur alternativen Gestaltung des männlichen Selbst zu machen sowie aufzuzeigen, mit welchen Gewinnen eine Revision der männlichen Rolle verbunden sein kann.59

Veränderungen bestehender Verhältnisse, die durchaus zu entdecken sind, bedürfen jedoch nicht nur akademischer oder männerbewegter, sondern auch politischer Hilfestellung. Denn es zeigt sich, dass Fortschritte zwar eher im privaten denn im öffentlichen Raum statt finden, dort jedoch einigen institutionellen Behinderungen ausgesetzt sind.60 Neben der grundsätzlich aufgestellten Forderung, diese Problematik anhand der Medien im öffentlichen wie vor allem auch im persönlichen Bewusstsein zu verankern, ist es die Förderung von geschlechtssensibler Politik und Jungenarbeit, der in dieser Hinsicht eine wesentliche Rolle zukommt.

Geschlechtssensible oder auch ,,patriarchatskritische" Jungenarbeit61 zeichnet sich dabei nicht dadurch aus, bestimmte Methoden oder Inhalte zu verwenden, sondern eine bestimmte Sichtweise zu vertreten. Eine Jungenarbeit, die dabei gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht explizit mit einbezieht, greift zu kurz und neigt dazu, geschlechtshierarchische Strukturen und Tendenzen bei Jungen zu verstärken. Den Nutzen und die Zwänge, die innerhalb bestehender Verhältnisse existieren, bewusst zu machen - genau das jedoch ist die Herausforderung, der zu stellen sich die geschlechtssensible Jugenarbeit zur Aufgabe gemacht hat. Denn nur so könne sich eine innere Motivation zur Veränderung der eigenen Rolle und des Verhaltens herausbilden.62 Ziele und Herangehensweisen können dabei folgende sein: Jungen müssen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten unterstützt werden, wobei erkannt werden muss, dass sich traditionelle und emanzipatorische Muster von Männlichkeit oftmals im Widerstreit miteinander befinden. Diese Ambivalenzen anzuerkennen wird als zentral betrachtet. Diskriminierendes Verhalten gilt es dabei zwar zu kritisieren, gleichzeitig jedoch gilt es zunächst einmal, die Angst vor der eigenen Unmännlichkeit abzubauen und Jungen darin zu bestärken, alternative Ausdrucksmittel der Männlichkeit zu wählen und Kritik an bestehenden Strukturen und Vereinseitigungen öffentlich auszudrücken. Das heißt, ,,die Empörung über die Ungerechtigkeit von Herrschaft über Frauen muss erst in das eigene männliche Erleben integriert sein, sonst wird sie von ersten konkreten Interessenkonflikt mit Frauen hinweggespült."63 Ein solches Hinterfragen sei allerdings nicht mit Frauenfreundlichkeit zu verwechseln. Es ginge vielmehr zunächst um die Situation des männlichen Geschlechts. ,,Jungen- und Männerarbeit hegt nicht den Anspruch, Feministen heranzuziehen."64
An anderer Stelle wird die Forderung nach männlichen Bezugspersonen laut, deren nicht zu unterschätzende Bedeutung schon in Kapitel 2 angedeutet wurde. Und nicht zuletzt müsse Gewalt endlich als jungenspezifisches Problem thematisiert werden, denn die zurzeit ausschnitthafte Behandlung dieses Problems werde den tatsächlichen Ursachen nicht gerecht.65

In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutung der Umformung unserer Institutionen zu sehen, da alle gesellschaftlichen Einrichtungen entsprechend der Vorstellung von hegemonialer Männlichkeit geprägt sind. Daher sei es zu kurz gegriffen, Förderungs- und Maßnahmenkataloge zur Gleichstellung von Frauen bereit zu stellen, umgekehrt jedoch keine Konzepte zur Ablösung männlicher Herrschaftsformen anzubieten.66
So ist es nicht verwunderlich, dass der Gleichstellungsprozess stagniert. Fortschritte lassen sich daher nur erzielen, wenn Frauenpolitik in Zukunft durch Männerpolitik ergänzt wird. Deren Ziel dürfte es vor allem sein, der noch immer herrschenden Ungleichverteilung gesellschaftlicher Arbeit entgegen zu wirken, denn noch finden Kindererziehung, Haus- und Erwerbsarbeit zumeist in den alten Bahnen der Geschlechtsstereotype statt.67 Erhebliche Bedeutung wird hierbei unter anderem der Förderung aktiver Vaterschaft beigemessen. Ein neues Verständnis von Elternschaft als Aufgabe zweier Personen, die Rolle der Männer im Familienbereich, deren Beziehung zu ihren Kindern, ihre Rolle als Väter gehört auf die Tagesordnung der Gleichstellungspolitik.

Wie also könnte der neue Mann aussehen? Eine Utopie von Anthony Astrachan möchte ich an dieser Stelle statt eines Schlusswortes setzen:68

,,Nach meiner Definition hat der neue Mann die meisten traditionellen männlichen Geschlechterrollen und den Versuch, die Macht zu monopolisieren, aufgegeben oder überwunden. Er besteht nicht mehr darauf, der einzige oder dominante Verdiener des Familieneinkommens zu sein und weigert sich, zum Sklaven seiner Arbeit zu werden, obwohl er Kompetenz und Leistung schätzt. Er glaubt daran, daß Männer ebenso gefühlvoll sind wie Frauen und lernen sollten, ihre Gefühle auszudrücken. Er ist fähig, über seine eigenen Probleme und Schwächen zu reden. Der neue Mann unterstützt die Suche der Frauen nach Unabhängigkeit und Gleichheit nicht nur verbal. Er setzt sich an seinem Arbeitsplatz für gleichen Lohn, für gleiche oder vergleichbare Arbeit und für gleiche Beförderungschancen seiner Kolleginnen ein. Er nimmt seinen Beruf nicht wichtiger als seine Familie. (...)
Der allerwichtigste Punkt ist allerdings, daß er die halbe Verantwortung für die Hausarbeit und die Kindererziehung zusätzlich zur Hälfte der Arbeit übernimmt."

5. Literaturverzeichnis:

Astrachan, Anthony Wie Männer fühlen. Ihre Reaktionen auf emanzipierte Frauen. Ein Report.

Kösel Verlag: München, 1992

Beck-Gernsheim, Elisabeth Vom ,Dasein für andere` zum Ansprcuh auf ein Stück ,eigenes Leben`. Individualisierungsprozesse im weiblichen Lebenszusammenhang.

In: Soziale Welt 34, 1988

Benard, Cheryl Der Mann auf der Straße. Über das merkwürdige Verhalten von Männern in ganz alltäglichen Situationen.

Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH: Reinbek bei Hamburg, 1980

Bisinger, Matthias u.a. (Hg.) Der ganz normale Mann. Frauen und Männer streiten über ein Phantom. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH: Reinbek bei Hamburg, 1992
Böhnisch, Lothar Möglichkeitsräume des Mannseins: Zur sozialisationstheoretischen und historischen Begründung einer Jungen- und Männerarbeit

In: Möller, Kurt (Hrsg.): Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende Jungen- und Männerarbeit. Juventa Verlag: Weinheim und München, 1997

Brannon, Robert The forty-nine percent majority - The male sex role.
und David, Deborah Reading (Mass.)
Connell, Robert Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten.

Leske + Budrich: Opladen, 1999

Engelfried, Constance Männlichkeiten. Die Öffnung des feministischen Blicks auf den Mann.

Juventa Verlag: Weinheim und München, 1997

Ev. Akademie Baden Und Mann bewegt sich doch ... Auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis der Männer.

Verlag Evangelischer Presseverband für Baden e.V.: Karlsruhe, 1992

Foucault, Michel Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses.

Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1976

Franks, Helen Goodbye Tarzan. Der endgültige Abschied vom Macho-Mann.

Econ Verlag GmbH: Düsseldorf und Wien, 1985

Gildemeister, Regine Die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit.

In: Hark, Sabine (Hrsg.): Dis/Kontinuitäten. Feministische Theorie. Leske + Budrich: Opladen, 2001

Goldberg, Herb Der verunsicherte Mann.

Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH: Reinbek bei Hamburg, 1986

Hagemann-White, Carol Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren.

In: Hark, Sabine (Hrsg.): Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie. Leske + Budrich: Opladen, 2001

Hausen, Karin Die Polarisierung der ,,Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben.

In: Hark, Sabine (Hrsg.): Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie. Leske + Budrich: Opladen, 2001

Hollstein, Walter Männerdämmerung: Von Tätern, Opfern, Schurken und Helden. Vandenhoek & Ruprecht: Göttingen, 1999
Mayreder, Rosa Zur Kritik der Weiblichkeit.

Diederichs: Jena und Leipzig, 1905

Meyer, Heinz Emanzipation von der Männlichkeit. Genetische Dispositionen und gesellschaftliche Stilisierungen der Geschlechtsstereotype.

Ferdinand Enke Verlag: Stuttgart, 1993

Möller, Kurt Merkmale und Konturen sozialer und pädagogischer Arbeit am Männlichkeits-Spagat.

In: Möller, Kurt (Hrsg.): Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende Jungen- und Männerarbeit. Juventa Verlag: Weinheim und München, 1997

Möller, Kurt Männlichkeit und männliche Sozialisation. Empirische Befunde und theoretische Erklärungsansätze.

In: Möller, Kurt (Hrsg.): Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende Jungen- und Männerarbeit. Juventa Verlag: Weinheim und München, 1997

Rohrmann, Tim Junge, Junge - Mann, o Mann. Die Entwicklung zur Männlichkeit.

Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH: Reinbek bei Hamburg, 1994


1 Franks, H. 1985, S. 13

2 Möller, K. 1997, S. 23

3 Hollstein, W. 1999, S. 50

4 Hausen, K. 2001, S. 162-177

5 Möller, K. 1997, S. 44f.

6 Hollstein, W. 1999, 66f.

7 Goldberg, H. 1986, S. 42

8 Brannon, R. 1976, S. 11

9 Hollstein, W. 1999, S. 62

10 Connell, Robert

11 Möller, K. 1997, S. 23

12 Foucault, M.

13 Hollstein 1999, 53f.

14 ebd.

15 Hollstein, W. 1999, S. 35

16 Beck-Gernsheim, E. 1988, S. 308

17 Franks, H. 1985, S. 19

18 Benard, Ch. 1980, S. 262

19 vgl. hierzu O′Neil, J.

20 Hollstein, W. 1999, S. 29

21 Hollstein, W. 1999, S. 53

22 Engelfried, C. 1997, S. 75

23 Hollstein, W. 1999, S. 60

24 Benard, Ch. 1980, S. 262

25 Hollstein, W. 1999, 59

26 Ev. Akademie Baden Forum 1992, S. 15

27 Hollstein, W. 1999, S. 29

28 Hollstein, W. 70

29 Hollstein, W. 1999, S. 69

30 Möller, K. 1997, S. 73

31 ebd., S. 37

32 Hollstein, W. 1999, S. 40

33 Hollstein, W. 1999, S. 68

34 Goldberg, H. 1986, S. 53

35 Bisinger, M. 1992, S. 20

36 Benard, Ch. 1980, S. S. 268

37 Hollstein, W. 1999, S. 13

38 zu biologischen Konstanten vgl. Möller, K. 1997, S. 37ff.

39 Hagemann-White, C. 2001, S. 20

40 Möller, K. 1997, S. 166

41 vgl. Möller, K. 1997, S. 51f.

42 Hollstein, W. 1999, S. 9

43 Rohrmann, T. 1994, S. 213f.

44 Hollstein, W. 1999, S. 104. Zur Typisierung jener Reaktionsformen vgl. auch S. 102ff.

45 Franks, H. 1985, S. 13

46 Hollstein, W. 1999, S. 17

47 Möller, K. 1997, S. 13f.

48 vgl. Hollstein, W. 1999, S. 8

49 Mayreder, R. 1905, S. 199

50 vgl. hierzu Fthenakis, W.

51 vgl. Möller, K. 1997, S. 53

52 Hollstein, W. 1999, S. 18

53 Möller, K. 1997, S. 11

54 Möller, K. 1997, S. 7f.

55 ebd.

56 Engelfried, C. 1997, S. 40

57 vgl. hierzu Engelfried, C. 1997, S. 19ff. sowie 56ff.

58 Rohrmann, T. 1994, S. 64f.

59 vgl. Hollstein, W. 1999, S. 110

60 vgl. Hollstein, W. 1999, S. 25

61 Bisinger, M. 1992, S. 188

62 Zieske, A. 1997, S. 186

63 Bisinger, M. 1992, S. 51

64 Möller, K. 1997, S. 11

65 vgl. hierzu Weidner 1997, S. 257ff.

66 hierzu ausführlich Sauerborn, W. 1997

67 Möller, K. 1997, S. 32

68 Astrachan, A. 1992, S. 47

.. bis der Tod Euch scheidet

...bis der Tod Euch scheidet

Eine Abhandlung über die Position des Menschen zwischen Monogamie und Polygamie

Copyright Christian Spannagel

April 1998, Version 1.1


Inhaltsverzeichnis

1. Bemerkungen vorab

2. Einleitung

3. Begriffsklärung

4. Biologische und psychoanalytische Grundlagen

4.1. Der biologische Ansatz oder Desmond Morris′ nackter Affe
4.2. Der psychoanalytische Ansatz oder Sigmund Freuds Sexualtheorie
4.3. Ergebnis der biologischen und psychoanalytischen Untersuchungen
4.4. Der Konflikt

5. Soziokulturelle und religiöse Lösungsansätze

5.1. Erich Fromm und die Kunst des Liebens
5.2. Das Christentum und die Einehe als unauflösliche Institution
5.3. Der Islam und die legitimierte Polygamie
5.4. Osho und die Ehe als Prostitution

6. Fazit

6.1. Promiskuität als Lösung?
6.2. Monogamie als Lösung?
6.3. Polygamie als Lösung?
6.4. Ergebnis

Anhang: Bibliographie



1. Bemerkungen vorab

Ich habe mich bemüht, in diesem Text möglichst viele Facetten der menschlichen Sexualität und Partnerbindung mit einzubeziehen. An einigen Stellen war dies aber nicht ausreichend möglich. So gehe ich im biologischen Aspekt nicht auf homo- bzw. bisexuelle Bindungen ein, einfach aus dem Grund, weil dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Ich betone, daß die Nichtbeachtung dieser Formen von Sexualität auf gar keinen Fall diskriminierend gemeint ist und auch so nicht verstanden werden soll. Ich hoffe auf das Verständnis der Betroffenen mit der Entschuldigung, daß diese Einschränkung sich wirklich hauptsächlich auf den biologischen Kontext bezieht. Alle anderen Aspekte sind meiner Meinung nach so allgemein gehalten, daß sich Bi- und Homosexuelle auch hier wiederfinden können. Analogien sind zumindest reichlich vorhanden.

Weiterhin möchte ich anmerken, daß ich grammatisch nicht explizit die weibliche und männliche Form angeben werde. Syntaktische Gebilde wie "der/die Schüler/in" oder "der (die) Schüler(in)" möchte ich aufgrund besserer Lesbarkeit vermeiden. Auch dies ist nicht diskriminierend gemeint, der jeweils entgegengeschlechtliche Part soll implizit mit enthalten sein.


2. Einleitung

Plötzlich, da kommt es mir,
Treuloser Knabe,
Daß ich die Nacht von dir
Geträumet habe.
Träne auf Träne dann
Stürzet hernieder;
So kommt der Tag heran -
O ging er wieder!
Eduard Mörike

"Zuerst war es die große Liebe. Dann kam der Alltag. Der erste Streit. Das erste Kind. Die Routine. Und eines Tages: der erste Seitensprung. Zwei Bedürfnisse sitzen tief in uns und lassen sich nicht miteinander in Einklang bringen: auf der einen Seite der Wunsch nach Treue, nach einer verläßlichen und vertrauensvollen Partnerschaft - auf der anderer der Reiz des Neuen, der Wunsch nach Erregung, Abenteuer, frischem Verliebtsein. Doch die in unserer Gesellschaft übliche Vereinbarung zwischen Mann und Frau ist eindeutig. Sie lautet: Von zwei Partnern, die in einer festen Beziehung leben, muß sich jeder auf die Treue des anderen verlassen können." - So beginnt das Magazin "P.M. Perspektive" seinen Artikel über die Frage "Wie treu sind die Deutschen?". 80 Prozent der Deutschen erwarten unbedingte Treue. 73 Prozent der Frauen und 65 Prozent der Männer halten Treue sogar für die wichtigste Eigenschaft, die der Partner besitzen sollte. 44 Prozent der Frauen würden ihrem Mann einen Seitensprung verzeihen, und nur 29 Prozent der Männer würden dies ebenfalls tun. Rund 50 bis 70 Prozent der Männer geben allerdings zu, schon einmal fremdgegangen zu sein. Bei Frauen liegt die Quote niedriger, je nach Umfrage tendiert hier die Zahl zwischen 10 und 69 Prozent (letztere Zahl stammt aus einer Umfrage in Amerika). Insgesamt kann man aber sagen, daß die Bereitschaft zum Seitensprung bei Frauen steigt; einige Forscher behaupten sogar, daß sie sich der Bereitschaft der Männer bald angeglichen haben wird.

Ist der Mensch für die Treue zu einem Partner geschaffen? Oder vielleicht zu mehreren? Oder ist er etwa zu gar keiner festen Bindung fähig? Mit diesen Fragen wird sich diese Arbeit beschäftigen. Sie enthält aus den verschiedensten Richtungen Material zu diesem Thema, um aufgrund der Vielfalt der behandelten Betrachtungsweisen zu einem umfassenden Ergebnis zu kommen. Ist der Mensch monogam oder polygam? Ich hoffe, mit dieser Arbeit ein wenig Licht in dieses Dunkel gebracht zu haben. Und wenn nicht, dann zumindest das Eine erreicht zu haben: ein wenig Sensibilisierung für die Gründe, warum soviele Partnerschaften zerbrechen...


3. Begriffsklärung

Um die Frage zu erörtern, ob der Mensch monogam oder polygam ist, muß zunächst geklärt werden, wie man die Begriffe versteht, da man sonst in Gefahr läuft, über verschiedene Dinge zu sprechen. Die Wörter "Monogamie" und "Polygamie" kommen aus dem Altgriechischen und bedeuten wörtlich übersetzt "Einehe" und "Vielehe". Heute unterscheidet man die biologische und die völkerkundliche Bedeutung der Wörter: In erstem Zusammenhang bedeutet monogam, daß ein Lebewesen von der Anlage her auf nur einen Geschlechtspartner bezogen ist, in zweitem Zusammenhang, daß eine Volksgruppe nur die Einehe kennt bzw. favorisiert, während polygam genau das Gegenteil bedeutet, nämlich einerseits, daß ein Lebewesen von der Anlage her auf mehrere Geschlechtspartner bezogen ist, und andererseits, daß es in Vielehe lebt. Als weitere Begrifflichkeiten gibt es noch die Polyandrie, in der eine Frau mit mehreren Männern verheiratet ist, und die Polygynie (ein Mann und mehrere Frauen). Polyandrie und Polygynie sind also Spezialformen der Polygamie. Ich schlage vor, unter dem Begriff "Polygamie" alle denkbaren Formen der Vielehe zusammenzufassen, also auch oben genannte Spezialformen. An dieser Stelle muß ergänzt werden, daß wir den Begriff Ehe nicht unbedingt als rechtlich verankerte Institution betrachten müssen. In unserer Erörterung macht es Sinn, Monogamie und Polygamie allgemein als länger andauernde soziale Beziehung mit sexuellen Privilegien zu beschreiben. Der Begriff "soziale Bindung" sei hier also nicht als gesellschaftlich anerkannte (Ehe-)gemeinschaft verstanden, sondern hergeleitet von dem Verlangen der Partner, über die sexuelle und emotionale Ebene ihrer Beziehung hinaus auch gesellschaftlich als Gemeinschaft aufzutreten, ganz gleich, wie die Gesellschaft über eine derart geformte Beziehung denkt.

In dieser Diskussion sollen die beiden Begriffe sowohl in der biologischen als auch in der völkerkundlichen Definition verstanden werden. Diese widersprechen sich offensichtlich nicht, sondern ergänzen sich. Vielmehr kann man, wenn man von der biologischen Seite zu einem Ergebnis gekommen ist, die soziale Umsetzung dieses Ergebnisses beurteilen. Anders formuliert: Weiß man, wie die biologischen Grundlagen beschaffen sind, kann man die aktuell vorherrschende Gemeinschaftsbeziehung (Einehe bzw. Vielehe) analysieren und zu dem Ergebnis kommen, daß diese der biologischen Ausprägung entspricht oder ihr gerade entgegenläuft (oder was man sich sonst noch so an Abstufungen dazwischen vorstellen kann). Beispiel: Eine monogame Anlage würde doch sinnvollerweise die Einehe mit sich bringen und umgekehrt. Derjenige, der der Meinung ist, daß dies keine sinnvolle Schlußfolgerung ist, sollte sich an dieser Stelle überlegen, inwieweit im entgegengesetzten Fall dann das Menschsein verwirklicht werden würde (Lebt ein von seiner Anlage her polygamer, aber monogam lebender Mensch sein Menschsein voll und ganz aus?). Hier hilft vielleicht die lateinische Sentenz "secundum naturam vivere" weiter.

Zum Wort "polygam" gibt der Duden noch eine dritte Bedeutung an, die nach Meinung der Dudenredaktion aber eher selten verwendet wird: polygam bedeutet in diesem Fall, daß ein Lebewesen mit mehreren Partnern geschlechtlich verkehrt, und zwar in dem Sinne, daß z.B. zwei Menschen zusammen leben, sich aber dennoch mit anderen Partner sexuell austauschen. Die Grenze zwischen Polygamie im letzten Zusammenhang und Promiskuität, die vielmehr Geschlechtsverkehr mit beliebigen Partnern ohne dauerhafte Bindung meint, ist unscharf. Der Unterschied liegt wohl darin, daß Polygamie das Interesse an einer gewissen dauerhaften, sozialen Bindung beinhaltet. Die Promiskuität ist am Partner hauptsächlich in sexueller Weise interessiert und nicht an einer länger andauernden, sozialen Bindung. Bei Promiskuität fehlt zudem die emotionale Bindung, die wohl in den meisten Fällen die Basis für eine glückliche, soziale Beziehung bildet. Sobald Emotionalität mit im Spiel ist, sobald der Partner als Wesen wichtig wird und sobald soziale Strukturen aufgebaut werden, die eine gewisse Dauer versprechen, läßt sich nicht mehr von Promiskuität sprechen. Somit ist klar geworden, daß der Unterschied zwischen Monogamie und Polygamie lediglich ein quantitativer ist, und daß sich beide von der Promiskuität qualitativ unterscheiden. Innerhalb dieses qualitativen Unterschiedes allerdings lassen sich selbstverständlich Abstufungen treffen, so daß vielleicht nicht immer leicht zu entscheiden ist, ob es sich nun um Polygamie oder Promiskuität handelt. Der vierte Fall, daß eine sexuelle Beziehung zu einem Partner ohne dauerhafte, emotionale und soziale Bindung besteht, ist vernachlässigbar, da er meines Wissens so gut wie nicht vorkommt. Es ist vielleicht noch wichtig anzumerken, daß eine gewisse Kausalität zwischen dem sozialen Bindungsinteresse und der Dauer einer Beziehung besteht: Ist mit ein Mensch auch außerhalb des sexuellen Bereiches wichtig, bin ich mit ihm emotional verbunden, werde ich auch längere Zeit mit ihm gemeinsam verbringen wollen. Wenn wir die Frage nach der Monogamie und der Polygamie erörtern, darf der Begriff der Promiskuität also nicht unbehandelt bleiben.

Gechichtlich Informierte werden bemerken, daß Emotionalität nicht zum Kriterium gemacht werden sollte; schließlich gibt und gab es auch Ehen, die aus reinen sozialen Gründen geschlossen werden; sogar am Anfang dieses Jahrhunderts war das noch die Regel. Die sogenannte romantische Ehe ist erst eine neuere Entwicklung. Gegen diese Ansicht ist an sich nichts einzuwenden, nur wäre sie für diese Erörterung wenig hilfreich. Wir wollen erörtern, ob der Mensch von seinem Wesen her monogam oder polygam veranlagt ist, und da eine solche, aus sozialen Gründen geschlossene Ehe allzu oft gegen das Wesen und die Wünsche der Betroffenen geschlossen wird (und somit gegen deren Emotionalität spricht), ist sie wohl wenig hilfreich (sozial erzwungene Monogamie bedingt z.B. nicht, daß die Partner auch wirklich monogam leben wollen). Man mag diesen Aspekt allerdings im Hinterkopf behalten, wenn wir auf die gesellschaftliche Sichtweise unseres Problems eingehen werden.

Ich möchte also vorschlagen, einen rein sexuellen Sachverhalt als promiskuitiv zu bezeichnen, und je mehr Emotionalität und Verlangen nach sozialer Bindung hinzutritt, umso eher von Polygamie und Monogamie zu sprechen (je nach Anzahl der Partner).

Die konkretere Fragestellung lautet also, ob der Mensch von seiner biologischen Anlage her nach einer dauerhaften, sozialen und emotionalen Bindung mit einem oder mit mehreren Partnern verlangt, und welche Folgen sich hieraus für die soziale Struktur ableiten lassen. Zudem muß geklärt werden, welche Rolle die Promiskuität spielt (d.h., ob der Mensch von seiner Anlage her überhaupt auf soziale und emotionale Bindungen eingerichtet ist, oder ob sein Interesse lediglich auf Seite der Sexualität liegt). Hieraus wird klar: Das Problem ist insgesamt also nicht ein rein sexuelles, sondern ebenso ein emotionales und soziales.

Ich schlage nun folgende Vorgehensweise vor: Wir werden uns zunächst den biologschen Aspekt betrachten und ihn durch den psychoanalytischen ergänzen. Ich halte diese beiden Betrachtungsweisen für gundlegend. Danach werden wir soziokulturelle und religiöse Sichtweisen daran überprüfen, um anschließend zu einem umfassenden Ergebnis zu gelangen. Ich bin bewußt darüber, daß dies ein möglicher Ansatz ist. Sollte jemand einen anderen Ansatz wählen, wird er vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Hält jemand z.B. die biologischen Tatsachen nicht für grundlegend, sondern behauptet, daß der Mensch sich mit Kultur und Religion längst über seine Biologie erhoben hat, so wird er sogar sicherlich zu einem anderen Ergebnis kommen. Ich halte allerdings den in dieser Arbeit gewählten Ansatz für wissenschaftlicher.

4. Biologische und psychoanalytische Grundlagen


4.1 Der biologische Ansatz oder Desmond Morris′ nackter Affe

Folglich habe ich den Menschen völlig zu Recht als den Sexprotz unter den Primaten bezeichnet. Und es handelt sich dabei nicht um eine Form kultureller Dekadenz, sondern um eine wichtige Entwicklung unseres kulturellen Fortschritts.
Desmond Morris

Warum der biologische Aspekt von solcher Wichtigkeit ist, ist klar: die Anlagen des Menschen sind die Basis, auf der das ganze Menschsein aufbaut. Zudem ist es in unserer Frage sicher von Interesse, auch die evolutionäre Seite des Menschen zu betrachten, um zurückzuverfolgen, wie unsere Vorfahren es mit der Bindung an einen oder mehrere Partner hielten. Desmond Morris, Zoologe und Verhaltensforscher, bringt die Bedeutung der Biologie auf den Punkt: "Nur wenn wir uns den Weg sehr genau anschauen, der uns von den Ursprüngen her zu dem geführt hat, was wir sind, und wenn wir daraufhin unser Verhalten heute als das einer zoologischen Art unter biologischen Gesichtspunkten eingehend studieren - nur dann können wir wirklich ein wohlausgewogenes, objektives Verständnis unseres so außergewöhnlichen Daseins gewinnen."

Desmond Morris hat verschiedene Bücher über den Menschen aus der Sicht eines Zoologen geschrieben. Um die Objektivität hierbei zu wahren, bezeichnet er den Menschen nach dem wohl auffälligsten Merkmal, welches ihn von seinen nächsten evolutionären Verwandten unterscheidet: Er bezeichnet ihn als "nackten Affen". Die Ergebnisse, die Morris über das Sexualverhalten und die sozialen Bindungen des erfolgreichsten Primaten liefert, seien hier zusammengefaßt, um sie in unserem Zusammenhang zu verwenden.

Die frühesten Vorfahren der Menschen führten als geschickt kletternde Waldbewohner ein nomadenhaftes Leben. Sie waren ortsungebunden und somit unabhängig. Die Nahrung bestand überwiegend aus Früchten und Nüssen, selten aus tierischen Eiweißen. Der Nahrungserwerb war viel weniger problematisch als der der jagenden Raubtiere. Waren die Früchteressourcen des aktuellen Lebensraumes erschöpft, zogen sie weiter in einen anderen Teil ihres Gebietes. In ihrer Lebensweise war das Zusammenwirken der einzelnen Tiere nicht so wichtig wie bei Raubtieren, bei denen die Nahrungsbeschaffung ein harter Überlebenskampf ist. Die Strecken, die jagende Raubtiere zurücklegen, um Beute zu finden, sind sehr viel größer als bei den Primaten, die praktisch nur danach zu greifen brauchen. Raubtiere müssen oft viele Kilometer in einem Jagdzug durchstreifen, "so daß sie Tage brauchen, bis sie zum Lager zurückkehren. Dieses Heimkehren zum festen Standquartier ist typisch für die Raubtiere, hingegen weit weniger üblich bei Tier- und Menschenaffen." Die Ordnung innerhalb einer Primatensippe wurde durch verschiedene Ränge gesichert: Es gab ranghöhere und rangniedrigere Männer. Der Sexualakt an sich dauerte nur wenige Sekunden (wie bei den meisten Affenarten heute auch noch), ein langes Werbeverhalten gab es nicht. Der Sexualakt diente zum Entladen der männlichen, sexuellen Spannungen, die Weibchen blieben von dem Akt unbeeindruckt und am Männchen weitgehend desinteressiert. Was das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Tieren anbelangt, kannten unsere Vorfahren keine feste Paarbindungen. Begattet wurde, wo sich die Gelegenheit bot. Durch die Rangordnung zwischen den Männern ergaben sich natürlich auch unterschiedliche sexuelle Rechte, woraus sich gewisse Zuordnungen von weiblichen Primaten zu männlichen ergaben und sich die männlichen Primaten das alleinige Recht herausnahmen, diese Frauen zu begatten. Dies kann man aber nicht als gegenseitige, feste Bindung bezeichnen, und vermutlich ebensowenig als emotionale (mit einiger Vorsicht behauptet, da wir uns ja nur auf Beobachtungen stützen können). Nur gelegentlich ergaben sich sehr kurze Paarbindungen. Das Verhalten unserer Vorfahren ist nach oben getroffenen Definitionen also irgendwo zwischen Polygamie und Promiskuität anzusiedeln, wobei es meiner Meinung nach eher zur Promiskuität tendiert, allein deshalb, weil ein Männchen die Chance zur Begattung im allgemeinen annahm, wenn sie sich ihm bot und die Wahl der Sexualpartners, die auf sexuelle Reizen beruhte, wohl in den wenigsten Fällen zu einer irgendwie gearteten Bindung führte.

Der Mensch jedoch hat sich irgendwann in seiner Vergangenheit vom reinen Primatendasein verabschiedet: er wurde seßhaft, und er begann zu jagen. Die Veränderung vom früchtesammelnden Affen zum Raubaffen hatte weitreichende Folgen für die soziale Struktur: die dauerhafte Paarbindung wurde zum wichtigen Element im Leben der Raubaffen. Hierfür gibt es mehrere Gründe: Einerseits mußten die Männer während der Jagd sicher sein, daß die Frauen ihnen in ihrer Abwesenheit treu blieben - "Folgerichtig hatte sich bei den Frauen die Tendenz zur Bindung an nur einen Mann - zur Paarbindung - zu entwickeln." Auch beim Mann mußte sich diese Art der Bindung durchsetzen, da der Zusammenhalt bei der Jagd gesichert sein mußte. Diese Zusammenarbeit würde unter sexuellen Rivalitäten nur allzusehr leiden. Die Ordnung unter den Männern mußte also weniger tyrannisch und mehr gleichberechtigt werden, auch weil Rivalitäten durch die neu erfundenen, gefährlichen Waffen tödlich enden konnten. Dies wurde dadurch gesichert, daß sich jeder Mann mit nur einer Frau begnügte. Zudem ist die Zeit des Heranwachsens der Jungen beträchtlich gewachsen im Vergleich zu den anderen Primaten. Kein anderer Affe hat heute eine so lange Reifezeit wie der Mensch (Dieses Phänomen bezeichnet man auch als Neotenie, als verlängerte Jugend, die zum Beispiel für das längere Heranwachsen der Gehirns sorgt, welches der körperlich schlecht ausgestattete Raubaffe zum Jagen benötigte). Die Folge war, daß sich die Mutter länger um das Kind kümmern und somit existentiell abgesichert sein mußte - abgesichert in der Familie, die auf einer dauernden Paarbindung basierte.

Wie wurde nun die dauerhafte Paarbindung realisiert? Hierfür führt Morris vielerlei Faktoren an: Der Mensch eignete sich die Eigenart an, sich zu verlieben. Dieses Verlieben ermöglichte die Konzentration der Sexualität auf einen Partner. Die Sexualität ist überhaupt der wichtigste Faktor bei der Ausbildung der dauerhaften Monogamie gewesen: Der Sexualakt dauert beim Menschen wesentlich länger als bei anderen Tieren; dem Sexualakt geht zum Beispiel ein sehr ausgedehnter Werbevorgang voraus, und auch der Paarungsvorgang an sich dauert oft mehrere Stunden, der im Gegensatz hierzu bei fast allen anderen Affenarten nur wenige Sekunden dauert. Der Mensch (vor allem die Frau) ist außerdem wesentlich öfter bereit dazu als andere Primaten, auch in Zeiten, in denen die Begattung keinen fortpflanzungstechnischen Sinn verfolgt, nämlich in Zeiten außerhalb des Eisprungs. Die Frau mußte auch Interesse am Sexualakt bekommen, was durch die Entwicklung eines weiblichen Orgasmus erreicht wurde. Viele Körperteile des Menschen erhielten stark sexuelle Funktionen (Hals, Haut, Ohrläppchen, Nase, Lippe, Klitoris, Busen, ...) Hierdurch hat sich die Vielfalt der Sexualhandlungen beim Menschen im Gegensatz zu den anderen Primaten um ein Wesentliches vergrößert. Diese neue Sexualität sicherte die Paarbindung. "Einmal verliebt, mußte der nackte Affe also verliebt bleiben. [...] Die zugleich simpelste und am ehesten zum Ziel führende Methode war die, den Austausch von Sexualhandlungen innerhalb des Paares zu steigern und lohnender werden zu lassen. Mit anderen Worten: Sex mußte sexyer werden." Eine andere Möglichkeit, wie die Paarbindung gesichert werden konnte, war die verlängerte Kindheit (s.o.). Die Bindung des Kindes an die Eltern ist viel stärker als bei allen anderen Primaten. Wenn das Kind nun erwachsen geworden ist und sich vom Elternhaus löst, fehlt diese starke Bindung, welche dann durch eine Bindung zu einem eigenen Partner in einer die Eltern imitierender Weise ersetzt wird.

Morris geht auch explizit auf Monogamie und Polygamie in diese Zusammenhang ein: Wenn die neu entstandene Monogamie hundertprozentig umgesetzt worden wäre, liefe die Art in Zeiten, in denen aufgrund des gefährlichen Jägerlebens die Zahl der Männer zurückgegangen ist, in Gefahr, stark dezimiert zu werden. "Würde nämlich der Paarbildungsprozeß so exklusiv, daß er Polygamie bei Männerknappheit total unterbindet, so käme es zu einer bedrohlichen Entwicklung [...]. Gegen eine Vielehe wiederum wendet sich der durch die vergrößerte Familie erheblich verstärkte Zwang, sie und den ganzen Nachwuchs wirtschaftlich zu unterhalten. So war die Möglichkeit für die Polygamie in einem gewissen Umfang gegeben, wenn auch mit starken Einschränkungen." Morris ergänzt, daß in den meisten Kulturen, vor allem in den größten, die Einehe vorherrschend ist, und hält es für interessant, einmal zu untersuchen, ob nicht die Einehe ein wesentlicher Faktor für das Erreichen von kulturellen Hochständen ist. Er schließt folgendermaßen: "Hier sei nur dies festgestellt: Was immer auch dieser oder jener unwichtige und zurückgebliebene Stamm heute in dieser Hinsicht tut - der Hauptstrom der Entwicklung unserer Art hat zur Paarbindung in ihrer extremen Form geführt, nämlich zur dauernden Einehe."

Zu ergänzen bleibt noch, daß diese Entwicklung von der promiskuitiven Lebensweise zur andauernden Monogamie über einen sehr langen Zeitraum stattfand, so daß unser genetisches Material genug Zeit hatte, sich mitzuentwickeln. Die bahnbrechenden kulturellen Entwicklungen der letzten paar tausend Jahre allerdings hatten weder Zeit noch Kraft, unsere Anlagen in andere Richtungen zu lenken: Der Mensch heute unterscheidet sich, was seine sexuellen Eigenarten angeht, kaum von dem Menschen, der zu der Zeit lebte, als das Rad erfunden wurde.

Dennoch befindet sich der Mensch heute in einer unklaren Situation, denn: "Wenn die Paarbindung für den Menschen so wichtig ist, fragt man sich natürlich: Warum bricht sie so oft auseinander?" Morris gibt vielfältige Antworten. Eine der naheliegendsten ist wohl diese: "Der Mechanismus der Paarbindung ist nicht gänzlich perfekt. Er mußte dem älteren Primatenprinzip aufgepfropft werden, und das schlägt immer noch durch. Geht irgendetwas in der Paarbindung schief, dann flackern sogleich die alten Primatentriebe wieder auf." Später berichtigt Morris diese Aussage und meint, daß uns dies nur als Unvollkommenheit erscheint, aber sehr wohl einen biologischen Sinn hat. Er unterscheidet hier zwischen beiden Geschlechtern. Einerseits hat der Mann das Bestreben, seine Gene so weit wie möglich zu streuen ("Massenmethode"), andererseits will er aber auch seinem Nachwuchs die größtmögliche Fürsorge entgegenbringen ("Qualitätsmethode"). Durch die starke Paarbindung wird der Mann in erster Linie zur Qualitätsmethode neigen. "Wenn beide Eltern ihren Kindern Nahrung, Wärme, Geborgenheit und Schutz vor Raubtieren bieten, haben die Kleinen eine höhere Überlebenschance. [...] Aber was geschieht, wenn der gute Vater unterwegs ein attraktives Weibchen trifft? Sperma hat er genug; warum sollte er die fremde Schönheit nicht damit beglücken? Wenn es klappt und sie schwanger wird, wird er nicht dasein, um für die Jungen zu sorgen. Er geht ja ganz in seiner eigenen Familie auf. Aber vielleicht wird sie die Kleinen allein großziehen, oder sie trifft einen Partner, der das in seinem neuen Weibchen entstehende Leben später zu versorgen hilft." Die Lösung zwischen beiden gegensätzlichen Methoden wäre ein Kompromiß: Hauptsächlich konzentriert sich der Mann auf seine Familie, und nur ab und zu zeugt er hier und da ein paar außereheliche Nachkommen. Er nimmt das beste aus beiden Systemen. Doch eine Tatsache steht im in diesem System im Weg: Sein eigenes Bedürfnis, Bindungen einzugehen. Sobald er sich mit einem anderen Weibchen paart, überkommt ihn die emotionale Stärke der Paarbindung. Er schafft es nicht ohne weiteres - was genetisch vorteilhafter wäre - , außereheliche Kinder zu zeugen, ohne gefühlsmäßig beteiligt zu sein. Läßt er es allerdings, so wehrt sich sein sexuelles Verlangen, und er gerät in einen Triebkonflikt. Auf diese Spannung werden wir später noch genauer eingehen. Soweit zum Mann. Bei Frauen liegt die Sache etwas anders. Die Freizügigkeit wird stark eingeschränkt, allein "weil die Empfängnis ihr die elterliche Hauptlast aufbürdet." Dennoch leisten sich Frauen Liebhaber und nehmen sich ergebende Gelegenheiten wahr. Dieses Risiko gehen Frauen ein, weil sie, so Morris, von ihren biologischen Anlagen her aus verschiedenen Beziehungen das Beste mitnehmen wollen. Studien ergaben zum Beispiel, daß Frauen mit ihren Liebhabern besonders zur Zeit ihres Eisprungs schlafen, womit sie (unbewußt) erreichen wollen, eher von ihnen als von ihren Ehegatten befruchtet zu werden. Ehemänner und Liebhaber müssen hierbei andere Qualitäten haben: Ehemänner sollen bevorzugt liebevoll und fürsorgend sein, Liebhaber stark, intelligent, jugendlich oder von hohem Status. "Die typische untreue Frau wählt also einerseits das beste genetische Material für ihre Nachkommen, andererseits den fürsorglichsten Partner für ihre Langzeit-Beziehung." Beim Ausüben außerehelichen Verkehrs und beim Aufrechterhalten außerehelicher Beziehungen werden allerdings ebenfalls 0

In diesen Kontext müssen noch die neuesten kulturellen Entwicklungen mit einbezogen werden. Einerseits gibt es die Möglichkeit, die Geburtenanzahl zu beschränken. Andererseits hat sich die Frau im Zuge der Emanzipation wirtschaftlich unabhängiger gemacht. Aus diesen beiden Gründen hat sich für Frau die Möglichkeit ergeben, sexuell freizügiger zu sein. Alle diese Entwicklungen haben zwar (wie oben bereits erklärt) keine Auswirkung auf unser genetisches Material - emotional reagieren wir immer noch ganz ähnlich wie unser Vorfahr -, aber dennoch muß es in unsere Betrachtung mit einbezogen werden, da diese Entwicklungen nicht folgenlos für das heute beobachtbare Sexualverhalten geblieben sind. Dies werden wir allerdings erst in einem späteren Zusammenhang erörtern.

Bevor wir uns das Verhältnis von Monogamie und Polygamie aus einem anderen Blickwinkel ansehen, dient es vielleicht einer besseren Übersicht, alle Ergebnisse aus diesem Kapitel noch einmal zusammenzufassen: Bevor unsere Vorfahren seßhaft wurden, lebten sie überwiegend promiskuitiv. Nach und nach entwickelte sich die Monogamie aus verschiedenen Gründen, hauptsächlich, um die verlängerte Aufzucht des Nachwuchses zu gewährleisten. Dennoch sind neben der monogamen Lebensweise noch andere Bestrebungen erhalten geblieben: Einmal die Möglichkeit, in Zeiten des Männermangels Polygamie zu bevorzugen, und zum anderen der genetisch vorteilhafte außereheliche Verkehr, durch den allerdings emotionale Konflikte entstehen, und ohne den Triebkonflikte bleiben. Zudem muß die Rolle der heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen noch geklärt werden. "Was seine Sexualität anbelangt, so sieht sich der nackte Affe heute in einer reichlich konfusen Situation: Als Primate wird er in die eine Richtung gezerrt, als Raubtier in die andere, und als Angehöriger einer hochkomplizierten zivilisierten Gemeinschaft in eine dritte."


4.2 Der psychoanalytische Ansatz oder Sigmund Freuds Sexualtheorie

Über das ganze Leben bleibt das Ich das große Reservoir, aus dem Libidobesetzungen an Objekte ausgeschickt und in das sie auch wieder zurückgezogen werden, wie ein Protoplasmakörper mit seinen Pseudopodien verfährt.
Sigmund Freud

Wir wollen uns nun mit der psychologischen Seite unseres Problems beschäftigen. Vorerst möchte ich erklären, warum wir gerade in dieser Richtung fortschreiten: Wir bewegen uns aus tieferen Schichten immer weiter an die Oberfläche: zunächst die Biologie, dann die Psychologie. Mit Hilfe der Erkenntnisse aus diesen Bereichen werden wir dann verschiedene Lösungsansätze aus soziokulturellen und religiösen System überprüfen und schließlich ein Fazit ziehen. Ich bin mir dessen bewußt, daß dies nur ein möglicher Ansatz ist. Ich halte ihn für den sinnvollsten, da er einer gewissen Kausalitätskette entspricht (Die Biologie beeinflußt die Psyche, die Psyche entwickelt kulturelle Systeme usw.). Aus der Vielzahl der psychologischen Richtungen wählen wir die Psychoanalyse, weil hier der Wechsel von der Biologie besonders gut gelingt. Zum Übergang von Biologie und Psychologie sagt Sigmund Freud: "Die Triebe und ihre Umwandlungen sind das letzte, das die Psychoanalyse erkennen kann. Von da an räumt sie der biologischen Forschung den Platz." An anderer Stelle: "Die Psychoanalyse vergißt niemals, daß das Seelische auf dem Organischen ruht, wenngleich ihre Arbeit es nur bis zu dieser Grundlage und nicht darüber hinaus verfolgen kann."

Sigmund Freuds letzte Fassung der Triebtheorie beschäftigt sich mit dem Triebdualismus zwischen Sexualtrieb (auch Lebenstrieb, Eros genannt) und Aggressionstrieb (auch Todestrieb), die beide immer gemischt vorkommen (Triebmischung) und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Konstruktivität und Destruktivität bewirken. Die Existenz des letzteren ist unter Psychoanalytikern umstritten. Ob es sich hierbei nun um einen echten Trieb oder lediglich um ein Prinzip handelt, ist für unsere Fragestellung nicht von Bedeutung. Uns interessiert mehr der Sexualtrieb, und ich denke, es wird wohl kaum bezweifelt, daß es sich hierbei um einen echten Trieb handelt (Unter Fachleuten bestehen allerdings sehr wohl Differenzen in der Auffassung, was im menschlichen Leben vom Sexualtrieb bestimmt wird und was nicht; aber auch das ist für uns nicht von großem Interesse). Freud stellt sich das Wirkungsprinzip des Sexualtriebes folgendermaßen vor: Die Substanz des Triebes wird gebildet durch eine sexuelle Energie, die sogenannte Libido. Ist ein Objekt ein Objekt der sexuellen Begierde (Wobei sexuell nicht unbedingt genital gemeint sein muß, sondern durchaus in allen möglichen Ausprägungen, vor allem auch oral und anal, die wichtigsten Sexualformen in der Infantilität), so ist es mit Libido besetzt; genauer: die psychische Repräsentanz ist mit einer gewissen Menge der vorhandenen Libido besetzt. Im Babyalter zum Beispiel ist die Brust der Mutter stark mit Libido besetzt, später der eigene Anus und der Kot, im Erwachsenenalter als offensichtlichster Fall der Sexualpartner. Aber nicht nur Objekte können mit Libido besetzt sein, auch Befriedigungsformen (z.B. die Lust am Lutschen und Lecken leitet sich ab von der libidinösen Fixierung auf orale Befriedigungsformen). Sexuelle Energie, die nicht auf Objekte oder Befriedigungsformen gerichtet ist, ist auf den eigenen Körper gerichtet. Dieses Phänomen wird als Narzißmus bezeichnet. Die narzißtische Libido ist nach Freuds Auffassung sogar die überwiegende Form, nur ein geringer Teil wird vom eigenen Körper abgezogen und auf andere Objekte gelenkt. "D.h., die Objektlibido ist ein Abkömmling der narzißtischen Libido und kehrt unter Umständen zu ihr zurück, wenn das Objekt später aus irgend einem Grund aufgegeben wird." Wenn ein Objekt (wir beziehen uns ab jetzt nur noch auf Objekte und lassen Befriedigungsarten außerhalb unserer Betrachtungen, da sie für unsere Erörterung von geringerer Bedeutung sind) eine gute Triebbefriedigung ermöglicht, wird der Teil Libido sicher darauf besetzt bleiben, solange die Besetzung konfliktfrei bleibt. Die Stabilität der Besetzung ist allerdings erst eine Errungenschaft in der fortgeschrittenen Kindheit (Die Libido eines Babys und eines Kleinkindes ist noch wesentlich leichter beweglich als im höheren Alter). "Weiter haben die Objektbeziehungen des Kindes jetzt [3.-4.Lebensjahr] einen beträchtlichen Grad von Dauer, von Stabilität erlangt. Die auf ein Objekt gerichteten Besetzungen dauern an, obwohl das Bedürfnis nach dem Objekt zeitweise fehlt, was in den sehr frühen Stadien der Ichentwicklung nicht der Fall ist. Diese Besetzungen bleiben sogar trotz ziemlich langer Abwesenheit des Objekts selbst bestehen." Für uns ist von großer Wichtigkeit, daß die Libido nicht auf ein Objekt beschränkt bleibt, da sie sich beliebig aufsplitten kann, sondern durchaus auf mehrere Objekte verteilt ist, sicherlich in unterschiedlicher Quantität.

Es darf allerdings nicht vergessen werden, daß all diese Besetzungsvorgänge unbewußt geschehen, d.h. bewußt wird davon nichts wahrgenommen. Der Sitz der Triebe ist nämlich das Es, und das Es ist zum allergrößten Teil unbewußt. Neben den Trieben befinden sich hier noch alle verdrängten Vorstellungen und Wünsche, die uns so häufig in stark verzerrter und bis zur absoluten Unkenntlichkeit veränderter Form in unseren Träumen begegnen. Es wird vermutet, daß das Es am Anfang eines Menschenlebens den gesamten Teil der Psyche einnimmt. Wenn das Kind dann lernt, zwischen Umwelt und eigenem Körper zu unterscheiden, beginnt sich der zweite Teil des psychischen Apparates auszubilden: das Ich. Das Ich ist in einer unglücklichen Vermittlerposition. Es muß im Laufe der Zeit lernen, zwischen Es und Umwelt zu vermitteln. Sehr häufig stoßen Wünsche aus dem Es auf Unverständnis in der Umwelt, und so hat das Ich die schwierige Aufgabe zu entscheiden, was mit diesen Triebregungen passieren soll. Eine häufig genutzte Methode ist die der Verdrängung. Es sei darauf hingewiesen, daß auch dieser Prozeß häufig unbewußt geschieht. "Es [das Ich] bemüht sich auch, den Einfluß der Außenwelt auf das Es und seine Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. Die Wahrnehmung spielt für das Ich die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält." Später kommt noch eine vierte Instanz hinzu, das Über-Ich. Das Über-Ich ist die verinnerlichte Stimme der Eltern, die verhindert, daß wir jedesmal wieder dieselbe Strafe oder Mißbilligung der Eltern erfahren, sondern vorher gewarnt werden. Es kann (stark vereinfacht) mit dem Gewissen verglichen werden; es beruht auf Introjektion spezifischer Eigenarten der stark mit Libido besetzten Eltern. "Weil die ersten Liebesbeziehungen des Kindes die stärksten sind, sind auch die ersten Identifizierungen - jene des ersten Lebensjahres - die stärksten. Sie nehmen von nun an innerhalb des Ichs eine Sonderstellung ein, und eben diese Sonderstellung, diese zusätzliche Wichtigkeit und Stärke, diese Glorifizierung der ersten Identifizierungen innerhalb der Persönlichkeit, bezeichnen wir als Über-Ich." Das Ich muß also zwischen Es, Über-Ich und Umwelt vermitteln: Das Es überfällt das Ich mit Triebwünschen, die Umwelt mißbilligt die Wünsche, und das Über-Ich bestraft und quält noch zusätzlich. "So vom Es getrieben, vom Über-Ich eingeengt, von der Realität zurückgestoßen, ringt das Ich um die Bewältigung seiner ökonomischen Aufgabe, die Harmonie unter den Kräften und Einflüssen herzustellen, die in ihm und auf es wirken."

Wie nützt uns diese Theorie jetzt in unsere Fragestellung nach der Monogamie und Polygamie? Zunächst einmal ist wichtig, daß die Libido, die Sexualenergie, auf mehrere Objekte verteilt sein kann und es auch in den allermeisten Fällen ist. Somit ist es unsinnig anzunehmen, ein Mensch könne seine ganze Liebe nur einem einzigen anderen Menschen zukommen lassen. Sexuell ansprechende andere Menschen werden zwangsläufig mit Libido besetzt werden, d.h., die unbewußten Wünsche, sich mit anderen Partnern sexuell auszutauschen, müssen zunächst einmal als existent hingenommen werden. Dies entspricht in etwa der Theorie von Desmond Morris: Da das Ich und das Über-Ich hauptsächlich durch den Ausbau des psychischen Apparates durch die Entstehung eines größeren Gehirns und durch kulturelle Einflüsse entstanden und geprägt sind, ist das Es mit der größten Wahrscheinlichkeit ein Erbe aus der vorkulturellen Zeit. Die Beweglichkeit der Libido, die als Triebenergie ja den Tiefen des Es entstammt, leitet sich vermutlich von dem Sexualverhalten unserer Vorfahren ab. "Alle seine grundlegenden sexuellen Eigenschaften verdankt er [der nackte Affe] seinen früchtepflückenden, waldbewohnenden Menschenaffen." Die Tendenz zum Verweilen der Libido auf einem Objekt, bis es zum Konflikt mit Umwelt oder Über-Ich kommt, leitet sich dagegen vermutlich aus der Entstehungsphase der Paarbindung her: Damit eine lang andauernde Paarbindung entstehen konnte, mußte die Libido natürlich auf dem Objekt, d.h. auf der psychischen Repräsentanz des Gatten, besetzt bleiben. Diese Stabilität der Libidobesetzung begründet die emotionale Verbundenheit mit dem Objekt.


4.3 Ergebnis der biologischen und psychoanalytischen Untersuchungen

Bisher läßt sich sagen, daß sich unsere biologischen und psychoanalytischen Betrachtungen weitgehend ergänzen. Die Vorfahren des Menschen lebten überwiegend promiskuitiv. Dies entspricht der Beweglichkeit der Libido, mit der verschiedene Objekte besetzt werden können. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Paarbindung, die durch den Ausbau der Sexualität und durch die neu erworbene Stabilität der Libidobesetzungen verwirklicht werden konnte. Der immense Anstieg der menschlichen Fähigkeit, Sexualität in der größten Vielfalt zu erleben, und die enorme Bereitschaft dazu entspricht der Stärke des Sexualtriebs, wie sie von den meisten Psychoanalytikern betont wird.


4.4 Der Konflikt

Die Monogamie ist jedoch nicht gänzlich verwirklicht worden; die Libido ist beweglich geblieben. Der durchaus biologisch sinnvolle Drang nach sexuellen Kontakten außerhalb der Paarbindung ist allerdings konfliktgeladen: Neue Partner binden emotional, da die Libido nun auch stabil in ihren Besetzungen bleiben will. Wird dem Verlangen allerdings Einhalt geboten, so verbleibt der unbefriedigte Triebwunsch als Konfliktstoff zurück, der dann möglicherweise der Verdrängung anheimfällt und psychischen Schaden anrichten kann. Diese Spannung, in der sich der Mensch befindet, ist nun offensichtlich geworden, und sie bildet das eigentliche Kernproblem unserer Untersuchung. Im nun folgenden Kapitel werden wir verschiedene Lösungsansätze diskutieren, um schließlich zu einem umfassenden Bild zu gelangen.


5. Soziokulturelle und religiöse Lösungsansätze


5.1 Erich Fromm und die Kunst des Liebens

Darstellung

Wir gehen weiter auf der Abstraktionsleiter eine Ebene nach oben und müssen sofort einen Begriff einführen, der in bisherigem Zusammenhang noch nicht erwähnt worden, der aber jedem hinlänglich bekannt ist: die Liebe. Bisher haben wir lediglich von emotionaler Bindung gesprochen, ein sehr biologischer und psychologischer Begriff. Nach Erich Fromms Meinung ist Liebe allerdings nichts, was ererbt werden kann, sie muß erlernt werden. "Liebe ist nicht angeboren, sie ist eine Kulturerrungenschaft." Sie ist eine Kunst, die man sich aneignen muß. Um zu beschreiben, was Liebe ist, wählt Fromm den Weg, erst einmal zu definieren, was sie nicht ist. Wenn eine Beziehung auf Unterordnung (Masochismus) oder Überordnung (Sadismus) beruht, dann kann man diese Beziehung seiner Meinung nach nicht Liebe nennen. Der Partner wird nicht als gleichberechtigte Person angesehen, sondern als Besitz. Dieses Besitzenwollen hält Fromm für eine Krankheit des Kapitalismus. Der sogenannte hortende Charakter versucht in allen Bereichen, Dinge zu besitzen, Dinge haben zu wollen, auch in der Liebe. Für Fromm gibt es in diesem Zusammenhang nur zwei Lebenskonzepte: "Haben oder Sein". Der Mensch, der versucht, seinen Partner haben zu wollen, erliegt einer Krankheit seiner Zeit. Das Ziel muß erstrebt werden, einfach zu sein, d.h. sein ganzes Menschsein zu verwirklichen, man selbst zu sein, die Entfremdung von der Umwelt zu lösen. Wenn man es schafft, man selbst zu sein, dann kann man auch den anderen bedingungslos annehmen, seinen Nächsten lieben, ohne ihn besitzen zu wollen. "Nur wer seine Abhängigkeit, seine narzißtischen Allmachtsgefühle, den Wunsch auszubeuten oder zu horten überwindet, den Mut zu sich selbst findet, wird Fromm nicht müde zu erklären, kann wirklich Liebe geben, sowohl sexuell (Impotenz und Frigidität signalisieren die Unfähigkeit, geben zu können) wie materiell (nicht der ist wirklich reich, der hat, sondern der geben kann) oder auch ideell (andere an eigenen Interessen, eigenem Wissen, eigenen Erfahrungen und Gefühlen teilnehmen lassen können)." Dieser Zustand, der Zustand des Seins, in dem man wirklich lieben kann, ist für Fromm das eigentlich erstrebenswerte. Diese Liebe darf allerdings nicht mit dem Zustand des Verliebtseins verwechselt werden: "Zunächst einmal wird sie [die Liebe] oft mit dem explosiven Erlebnis <>, verwechselt, mit dem plötzlichen Fallen der Schranken, die bis zu diesem Augenblick zwischen zwei Fremden bestanden." Die erotische Liebe hält Fromm für exklusiv, im Gegensatz zur Nächstenliebe: "Sie ist exklusiv nur in dem Sinn, daß ich mich mit ganzer Intensität nur mit einem einzigen Menschen vereinigen kann. Erotische Liebe schließt die Liebe zu anderen nur im Sinne einer erotischen Vereinigung, einer vollkommenen Bindung an den anderen in allen Lebensbereichen aus - aber nicht im Sinne einer tiefen Liebe zum Nächsten." Ein wesentlicher Faktor in der erotischen Liebe ist der Wille; der Wille, sich mit dem anderen ganz und gar zu verbinden. "Jemanden zu lieben ist nicht nur ein starkes Gefühl, es ist auch eine Entscheidung, ein Urteil, ein Versprechen. Wäre die Liebe nur ein Gefühl, so könnte sie nicht die Grundlage für das Versprechen sein, sich für immer zu lieben. Ein Gefühl kommt und kann auch wieder verschwinden. Wie kann ich behaupten, die Liebe werde ewig dauern, wenn nicht mein Urteilsvermögen und meine Entschlußkraft beteiligt sind?" Doch dabei läßt es Fromm nicht bewenden, denn 012

Bewertung

Erich Fromm hat die von uns herausgearbeitete Spannung zwischen dem Verlangen nach Paarbindung und dem nach sexuellen Erlebnissen außerhalb der Paarbindung auf eine ganz eigentümliche Art gelöst: Er löst sie in einer Idealisierung der erotischen Liebe als Liebe zu einem einzigen Partner. Anderen Menschen außerhalb der Paarbindung wird keine erotische Liebe zuteil, da erotische Liebe exklusiv ist. Nächstenliebe jedoch kann auch an andere Menschen bedingungslos gegeben werden. Zudem ist diese erotische Liebe paradox: Einerseits eine Verbindung, die nur zwischen ganz bestimmten Menschen stattfinden kann, da sie ganz bestimmter Eigenschaften bedarf, andererseits ein bloßer Willensakt. Fromms Ansatz favorisiert die monogame Lebensweise und kennzeichnet zugleich die Schwierigkeiten: Gefühle können genauso schnell schwinden, wie sie gekommen sind, und daher ist der Wille, das Versprechen zu erfüllen, notwendig.

Gehen wir einmal von einem Beispiel aus: Ein verheiratete Frau verliebt sich in einen anderen Mann. Dies entspricht dem Prinzip, daß die Libido teilbar ist und andere Objekte als bisher (zusätzlich) besetzen kann, und auch biologisch haben wir diesen Sachverhalt geklärt. Nach Fromm gibt es nun zwei Möglichkeiten: Entweder sie hält an der erotischen Liebe zum Ehemann und an ihrem Versprechen fest, oder sie schenkt dem neuen Mann ihre erotische Liebe, da erotische Liebe exklusiv ist. Die Exklusivität der erotischen Liebe bedeutet aber, daß sie nicht zwei Männer gleichzeitig lieben und begehren kann (wenn man lieben in Erich Fromms Verständnis von Liebe versteht). Entspricht dies der Realität? Dies ist sicher sehr schwer zu beurteilen, da es wenige Menschen gibt, die in Fromms Verständnis von Liebe lieben. Sicherlich gibt und gab es schon unzählige Fälle, in denen Menschen zwei andere Menschen begehrt und tatsächlich geliebt haben, dann aber in einer Weise, die Fromm vielleicht nicht als Liebe bezeichnen würde. Demgemäß kann man schwer entscheiden, ob dieser Ansatz wirklich tauglich ist, zumal vermutet werden kann, daß sich der Triebwunsch, wenn er denn in einer solch idealen Liebe auftaucht, der Verdrängung anheimfällt. Gesichert wird die erotische Liebe durch den Willen, der es nicht zuläßt, daß eine solche Regung an Macht gewinnt. Fromm könnte entgegenhalten, daß jemand, der die erotische Liebe verwirklicht, solche Regungen nicht mehr hat. Das halte ich aber für unwahrscheinlich, a die Idealisierung und Umsetzung der erotischen Liebe und der Wille dazu auf einer Bewußtseinsebene liegen, die zwar genug Macht hat, solch unbewußte Regungen zu verdrängen, aber nicht genug, um die Entstehung erst zu verhindern.

Insgesamt kann man also sagen, daß der Frommsche Ansatz den Konflikt nicht löst, sondern den Zustand der konfliktfreien, erotischen Liebe zu einem Partner idealisiert und damit den Konflikt unterdrückt. Die Gefahr, daß jemand, der diesen idealen Zustand erreichen will, an seinen unbewußten Wünschen zerbricht, ist groß. Idealisierungen sind zwar als Richtlinie sinnvoll, doch Fromm geht davon aus, daß dieser Zustand auch erreicht werden kann.


5.2 Das Christentum und die Einehe als unauflösliche Institution

Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen; denn vom Mann ist sie genommen. Darum verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.
Genesis 2,23-24

Darstellung

Aus christlicher Sicht steht die Einehe einerseits unter dem "sittlichen Grundauftrag der Liebe", und andererseits ist sie Bedingung für die Zeugung und Aufzucht von Nachkommen: "Die Ehe ist somit auf die Sinnziele <> und <> hingeordnet." Die Ehe ist erst dann vollkommen, wenn sich Mann und Frau tatsächlich auch für Kinder entscheiden: "Ehe und eheliche Liebe sind ihrem Wesen nach auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft ausgerichtet." Der ausschlaggebende Wert der gegenseitigen Bereicherung durch Liebe wird hierbei aber keineswegs geleugnet. Die Ehe ist bei katholischen und griechisch-orthodoxen Christen ein Sakrament, die wegen des göttlichen Charakters unauflöslich geschlossen wird: "Die kath. Kirche vertritt die Unauflöslichkeit der Ehe. [...] Nach katholischer Auffassung ist die Ehe eine Einrichtung des göttlichen Rechts. Dies gilt einmal für die sakramentale Ehe, aber auch schon für die Natur-Ehe." Nur der Tod darf die Angetrauten scheiden. Wer Ehebruch begeht oder sich scheiden läßt, begeht eine schwere Sünde, da er einen vor Gott geschlossenen Bund bricht. Für die Protestanten ist die Ehe kein Sakrament; Luther bezeichnete sie als "ein äußerlich, leiblich Ding wie andere weltliche Hantierung".

Aus christlicher Sicht ist die Polygamie natürlich ausgeschlossen, da die Ehe als ganzheitliche Lebensgemeinschaft angesehen wird: "Die von Gott begründete und daher geheiligte Ehe ist auch als natürlicher Lebensbund im Interesse der Gattenliebe und der Nachkommenschaft Einehe [...] Die Vielehe trübt die Liebe von Mann und Frau und erschwert ihr für die Pflege des Kindes notwendiges Zusammenwirken oder macht es gar unmöglich." Im Alten Testament wurde die Vielehe zeitweilig geduldet: "Um die schnelle Vermehrung des auserwählten Volkes zu fördern, gestattete er später die Polygamie. Christus hat dann aber den ursprünglichen Zustand wiederhergestellt, indem er die Ehe mit einer Frau für allein rechtmäßig und unlöslich erklärte."

Bewertung

Die christliche Ansicht ist eine der strengsten Umsetzungen der biologischen Paarbildung. Der Mann muß der Frau treu bleiben und umgekehrt. Der Ehebruch ist eine schwere Sünde. An dieser Stelle ist es interessant sich zu überlegen, daß das Christentum in der Tat davon ausgeht, daß der Wunsch, außerehelichen Kontakt zu haben, keine Seltenheit und von nicht geringer Stärke ist. Warum macht es sonst aus der Ehe eine so feste, unlösbare, heilige, sakramentale Sache? Doch nur, um dem Paar klarzumachen: Wenn ihr den geschlossenen, heiligen Bund löst, begeht ihr eine schwere Sünde und bricht euer Versprechen, das ihr vor Gott abgelegt habt! Dies hat katastrophale, psychische Folgen: Jeder sexuelle, verbotene Wunsch wird verdrängt und der Auslöser von Angst werden. Was Fromm noch als Ausnahme erkennt, soll in der kirchlich geschlossenen Ehe die Regel sein. Was Fromm für eine Kunst und für langes Erlernen hält, setzt die Kirche voraus, obwohl sie weiß, daß kein Mensch die Kriterien ohne Weiteres erfüllen kann; daher die Druckmittel. Es handelt sich hier um Repression, die fatale Folgen für die psychische Gesundheit hat: Daher eignet sich meiner Meinung nach das christliche Ehesystem in keinem Fall, die von uns aufgedeckte Spannung konfliktfrei zu lösen. "Wo die Treue als moralischer Zwang von außen auftaucht, wo sie gebietet und verbietet, ist sie gegen den Menschen gerichtet." Fromm hat hier eine bessere Lösung gefunden: Die Element der Strafe fehlt, und die Ehe hält er ebenfalls nicht für unauflöslich (bzw. sieht sie zumindest in einem Paradoxon verankert). Fromm hat sozusagen das christliche System der Monogamie ein Stück weit vermenschlicht. Es ist noch interessant anzumerken, daß der größte Teil aller in der westlichen Welt geschlossenen Ehen christliche Ehen sind.

Einschränkend muß ich natürlich sagen, daß (streng) gläubige Christen meiner Bewertung nicht zustimmen werden. Der Grund liegt darin, daß sie von Anfang an einen anderen Ansatz gewählt hätten. Die Theologie begründet Aussagen sicher nicht mit biologischen oder psychologischen Denkansätzen, sondern mit Glaubensaussagen, Dogmen, Bibelzitaten etc. Insofern sind unsere Erklärungssysteme inkongruent und nicht zu vergleichen. Wer an den christlichen Gott glaubt, für den wird diese Arbeit vermutlich wenig hilfreich sein.

Einen interessanten Artikel, den ich im Lexikon der christlichen Moral gefunden habe, muß ich noch anführen. Dort steht: "Es ist nicht richtig, daß sich die einpaarige Dauerehe aus einem ursprünglichen Zustand geschlechtlicher Promiskuität entwickelt hätte. Die Ethnologie zeigt bei einfachen Völkern die Einehe." Hörmann argumentiert hier mit einfachen (d.h. weniger hochkulturellen) Völkern, anders als Morris, der mit dem Hauptstrom der menschlichen Entwicklung argumentiert. Lassen wir Morris auf Hörmanns Argumente antworten: "Der nackte Affe ist seinem Wesen nach eine explorative Art - will sagen: eine Art, die unablässig sucht, erkundet, probiert, die stets auf Neues bedacht ist, und das aber heißt, daß jede Gesellschaftsordnung, die es nicht geschafft hat, voranzukommen, in gewissem Sinne fehlgegangen ist. Irgend etwas ist mit ihr geschehen, irgend etwas hat bei ihr den dieser Art von der Natur gegebenen Trieb, die Umwelt zu erforschen und zu durchforschen, gehemmt. Die Eigentümlichkeiten, die von den Völkerkundlern bei solchen Stämmen studiert worden sind, können also durchaus gerade Tatsachen sein, die den Fortschritt eben dieser Gruppe gestört haben. Und deshalb ist es gefährlich, Kenntnisse über sie zur Grundlage des einen oder anderen generellen Schemas für unser Verhalten als dem einer zoologischen Art machen zu wollen."


5.3 Der Islam und die legitimierte Polygamie

Darstellung

In Koran und Sunna gilt die Ehe als eine empfohlene, selbstverständliche Einrichtung, in der beide Partner in Liebe und Verständnis einander zugetan sein und sexuelle Erfüllung finden sollen.

In der breiten Öffentlichkeit herrscht die Vorstellung, im Islam sei die vebreitetste Form der Ehe die Polygamie (genauer: die Polygynie). Tatsache ist, daß die Polygamie zwar erlaubt, aber dennoch lediglich eine vereinzelte Erscheinung ist. Am häufigsten findet man auch hier die Monogamie. Männern, die mehrere Ehefrauen haben (bis zu vier sind erlaubt), wird nämlich vom Koran auferlegt, alle gleich behandeln zu müssen: "Überlegt gut und nehmt nur eine, zwei, drei, höchstens vier Ehefrauen. Fürchtet ihr auch so noch, ungerecht zu sein, nehmt nur eine Frau [...]." Im Prinzip erfüllt die Ehe ähnliche Funktionen wie im Christentum: Bereicherung durch gegenseitige Liebe, Ermöglichung einer umfassenden Aufzucht der Nachkommenschaft, Kanalisierung der Sexualität. Der Islam allerdings schließt Ehescheidung - im Gegensatz zum Christentum - nicht aus; sie ist rechtlich genau geregelt.

Bewertung

In unserem Interesse liegt nicht die Ausprägung monogamer Ehen im Islam - die nennenswerten Aspekte zur monogamen Ehe haben wir bereits ausführlich behandelt. Uns interessiert viel mehr die Polygamie und die Tatsache, warum sie nicht häufiger vorkommt: Der Ehemann muß für seine Großfamilie auch sorgen können. Was die Biologie für den Ausnahmefall vorgesehen hat, ist hier regulär und vernünftig verwirklicht. Scheichs, die große Harems besitzen, haben die Vorschrift des Korans wohl zu ihren Gunsten ein wenig abgeändert. Allerdings birgt die reguläre Umsetzung der Polygynie eine Gefahr: Viele Männer bekommen hierdurch keine Frau und können so ihr Erbgut nicht weitergeben. Die islamische Polygamie würde ohnehin nicht als Lösung unseres Problems in Frage kommen, allein deswegen, weil lediglich die Polygynie legitimiert ist. In den großen Serails und Harems war die polygame Ordnung immer Konfliktstoff: Es gab Mord, Intrigen, ganz zu schweigen von der autoritären Herrschaft des Scheichs über seine Frauen. Desmond Morris bewertet diese Lebensweise folgendermaßen: "Keine Frage: Sobald wir Menschen die einfache Paarbindung als reproduktive Einheit verlassen, entstehen alle möglichen Probleme. Entweder bestehen sie in mangelnder elterlicher Liebe, die so wichtig für gesunde, stabile und intelligente Kinder ist, oder, schlimmstenfalls, entwickeln sich groteske Auswüchse. Wir scheinen genetisch für das Familienleben programmiert zu sein und nur dann zu vollem Leistungsvermögen zu reifen, wenn wir diesem Muster folgen."


5.4 Osho und die Ehe als Prostitution

Darstellung

Meine Botschaft ist Liebe. Das ist eigentlich ganz einfach, es hat nichts Komplexes an sich. [...] Es ist ein ganz simpler und direkter Zugang zum Leben. Das kleine Wort "Liebe" kann es enthalten. Es geht nicht darum, wen du liebst. Es ist unwesentlich, an wen Deine Liebe gerichtet ist. Was zählt, ist, daß du vierundzwanzig Stunden am Tag liebst, genau wie du atmest.
Osho

Osho, ein Sektenführer des 20. Jahrhunderts in Indien, der wohl unter dem Namen Bhagwan populärer ist, hält die Liebe, wie sie in den durchschnittlichen Beziehungen existiert, für unzureichend (ähnlich wie Erich Fromm). Die Beziehung an sich, so Bhagwan, ist ein schlechter Zustand: "In dem Augenblick, wo Liebe zur Beziehung wird, wird sie zur Fessel, denn es sind Erwartungen da, es sind Forderungen und es sind Frustrationen da - und auf beiden Seiten der Versuch zu herrschen. Es wird ein Machtkampf." Die Ehe selbst nennt er Prostitution: "Wenn ich meiner Liebe vertraue, warum sollte ich dann heiraten? Der bloße Gedanke an Ehe ist Mißtrauen. Und etwas, das aus Mißtrauen entspringt, wird Deiner Liebe nicht helfen, mehr in die Tiefe und Höhe zu wachsen. Es wird sie zerstören." Gegen die Vorstellung, Liebe solle ewig dauern, wendet er sich natürlich entschieden: "Man hat euch die Fehlvorstellung eingehämmert, wahre Liebe währe immer. Eine echte Rose blüht nicht für immer. [...] Die Existenz ist ein ständiger Wandel. Woher nur die Vorstellung, die fixe Idee, daß Liebe, um wahr zu sein, dauerhaft sein muß... und daß, wenn die Liebe eines Tages verschwindet, sich selbstverständlich daraus ergibt, daß sie nicht echt war?"

Die Liebe muß für ihn zum Seinszustand werden. Liebe bedeutet für ihn, das Wesen des Partners voll und ganz anzunehmen, ohne Einschränkung. Wenn jemand seinen Partner wirklich liebt, dann respektiert er dessen Wesen und Wünsche ausnahmslos. So schränkt keiner die Freiheit des anderen ein, der einzige Weg der Verbundenheit ist der der Liebe. Nach Osho muß die Liebe nicht auf einen einzelnen Menschen beschränkt sein, sie kann es aber. Oshos Sichtweise sei an einem Beispiel erklärt: Eine Frau teilt ihrem Partner voller Freude mit, daß sie einen Mann kennengelernt hat, mit dem sie gerne intimer werden möchte. Osho sagt nun, wenn dieser Mann seine Partnerin wirklich liebt, so muß er sich freuen, daß sie einen Menschen gefunden hat, den sie so sehr begehrt. Keiner soll die Freiheit des anderen einschränken, denn sobald dies passiert, ist Macht mit im Spiel. "Zwei Menschen können sehr liebevoll zusammensein. Je liebevoller sie sind, desto weniger ist eine Beziehung möglich. Je liebevoller sie sind, desto mehr Freiheit herrscht zwischen ihnen. Je liebevoller sie sind, desto geringer ist die Möglichkeit jeglichen Anspruchs, jeglicher Bevormundung, jeglicher Erwartung. Und natürlich ist jegliche Frustration ausgeschlossen." So wird eine Gemeinschaft wirklich ohne Egoismus und Eifersucht verwirklicht. Osho hält Eifersucht für eine psychische Krankheit. Wenn ein Partner sich gegen die gemeinsame Liebe entscheidet und die Partnerschaft auflöst, selbst dann muß der andere den Entschluß akzeptieren. Osho sagt in diesem Zusammenhang, daß das Alleinsein gelernt werden müsse. Bevor man fähig für die Liebe ist, muß man erst fähig zum Alleinsein sein. Denn wenn dies nicht der Fall ist, wird man sich an die Liebe klammern aus Angst, allein dazustehen.

Ein Jünger Oshos fragt seinen Meister: "Osho, ich möchte heiraten. Bitte gib mir Deinen Segen." Osho antwortet: "Bist du verrückt geworden, oder was? Es genügt, wenn Du liebst; heiraten tut nicht das geringste dazu. Im Gegenteil: Warum hast du es so eilig, mit einer schönen Erfahrung Schluß zu machen? Warte ab! Wenn Du merkst, daß es aus ist mit der Liebe, dann kannst du heiraten. [...] Liebe, und so tief wie möglich. Und wenn die Liebe selbst zur Ehe wird, dann ist es etwas anderes, etwas absolut anderes. Wenn die Liebe selbst zur Intimität wird, die unzerbrechlich ist, dann ist das etwas anderes. Dann ist es keine legale Sanktion. Legale Sanktionen sind nötig, wenn ihr Angst habt. Ihr wißt, daß Eure Liebe nicht groß genug ist; ihr wollt sie mit dem Gesetzbuch stützen. [...] Ich kann Deine Liebe segnen, aber nicht deine Heirat. Wenn die Liebe euch selbst verheiratet, dann hast Du meinen ganzen Segen dazu."

Bewertung

Erich Fromm und Osho haben ähnliche Ansätze: Beide kritisieren die Beziehung, wie wir sie kennen. Beide wählen ein neues Ideal. Während allerdings auf der einen Seite Erich Fromm die monogame Liebe idealisiert, zählt für Osho nur die Liebe an sich. Die Liebe kann sich auf eine oder auf mehrere Personen beziehen (vgl. die Libidotheorie). Demgemäß kann eine Gemeinschaft in Oshos Sinne rein monogam sein, aber auch jede erdenkliche Form von Polygamie ist möglich. Einzige Bedingung ist, ähnlich wie bei Fromm, daß Besitz- und Machtansprüche keine Geltung haben dürfen. Osho betont hierbei besonders die gegenseitige Annahme in Freiheit, ohne jede Einschränkung.

Wir befinden uns hier bereits auf einer absolut abstrakten und idealisierten Ebene. In Oshos Theorie hat aus diesem Grund die Annahme keinen Platz, daß Inbesitznahme des Partners und Eifersucht ja durchaus biologischen Sinn haben, nämlich die Aufzucht der Nachkommenschaft zu ermöglichen. Wo im christlichen Ansatz die Lust auf außereheliche Beziehungen verdrängt wird, wird hier der biologisch verankerte Drang zur Monogamie unterdrückt.


6. Fazit


6.1 Promiskuität als Lösung?

Aufgrund dieser Beobachtungen kann sicherlich behauptet werden, daß der Mensch vor langer Zeit einmal promiskuitiv gewesen ist, daß diese Lebensweise jetzt allerdings nicht mehr seinem Wesen entspricht, da der Wunsch nach emotionaler Bindung von der Monogamie her zu stark ausgeprägt ist. Zwar kann Sexualität völlig ohne emotionale Bindung gelebt werden, die Sehnsucht nach einer Beziehung allerdings bleibt. Die Promiskuität ist demnach keine Lösung für unsere konfliktreiche Situation. Der Mensch ist von seinem Wesen her nicht mehr promiskuitiv.


6.2 Monogamie als Lösung?

Monogamie ist sicherlich die beste Lösung, wenn man die Situation von der Seite der Nachwuchses her betrachtet. Sie biete das ideale Umfeld für das gesunde Aufwachsen eines Kindes. Jedoch zeigen die Scheidungsraten, das das monogame Ehesystem sehr anfällig ist. Ist Fromms Vorschlag, die monogame Liebe zu idealisieren und die außerehelichen Beziehungen auf Nächstenliebe zu beschränken, ein Ansatz? Meiner Meinung nach nein, da die durchaus biologisch sinnvolle Lust auf außereheliche Partner nicht akzeptiert und verdrängt wird; und Verdrängung hat im Allgemeinen schwerwiegende Konsequenzen für die psychische Gesundheit. Die vollkommene Monogamie gibt es also nicht, da sie gegen die Natur des Menschen spricht. Der Mensch ist von seinem Wesen her nicht ausschließlich monogam.

6.3 Polygamie als Lösung?

Polygamie ist sicher eine Lösung, wenn kein Nachwuchs erwartet oder gewünscht wird. Die Menschen begegnen sich hier vielleicht in größerer Freiheit und Toleranz, als dies in der Monogamie möglich ist. Erleichtert wird diese Lebensweise in unserer heutigen Situation noch durch Verhütungsmöglichkeiten und durch die Tatsache, daß sich die Frauen durch Emanzipation unabhängiger gemacht haben. Doch das Ideal, daß sich alle lieben und keiner eifersüchtig ist, bleibt eben eines. Es ist nicht vollkommen umsetzbar, und auch neuere kulturelle Entwicklungen haben hierauf keinen Einfluß. Es gab genügend Beispiele in der Geschichte, in denen versucht worden ist, eine polygame Lebensweise duchzusetzen, und nirgendwo konnte Haß und Eifersucht vermieden werden. Auch hier ist die einzige Möglichkeit, eine solche Lebensweise zu erzwingen, die Verdrängung. Der Mensch ist also von seinem Wesen her nicht ausschließlich polygam.


6.4 Ergebnis

Ich denke, folgendes deutlich geworden: Der Konflikt zwischen monogamen Bestrebungen und außerehelicher Beziehungslust bleibt ungelöst. Wo das eine favorisiert wird, wird das andere verdrängt, und beides gleichberechtigt nebeneinander kann nur schwer existieren, da sich Monogamie und Polygamie im Prinzip ausschließen. Es bleibt (leider) nur eins zu sagen: Der Mensch muß mit diesem Konflikt leben. Jeder muß für sich entscheiden, wie er diesen Konflikt löst. Es gibt kein Patentrezept. Eine annähernd intelligente Lösung ist die Akzeptanz der anderen Seite. Entscheidet sich ein Paar für die Monogamie, muß es akzeptieren, daß die Lust auf andere Sexualpartner oder gar Beziehungen nicht zu vermeiden ist. Entscheiden sich mehrere Menschen für die Polygamie, müssen sie auch Eifersucht als festen Bestandteil annehmen. Insgesamt ist es wahrscheinlich sinnvoll, sich selbst und den anderen nicht mit Idealen zu überfordern, wobei es wiederum nicht unsinnig ist, nach einem solchen zu streben. Man muß versuchen, für sich einen Mittelweg zu finden und die menschliche Unvollkommenheit zu akzeptieren. Niemand kann vollkommen monogam oder vollkommen polygam sein. Weder Lust noch Eifersucht können vermieden, weder Treue noch Toleranz erzwungen werden.

Hier ist wieder einmal gezeigt worden, wie wenig doch die abstrakten Theorien und Ideale der Religionen und Philosophien gegen die biologische Substanz ausrichten können. Der Mensch ist und bleibt ein nackter Affe.


Anhang: Bibliographie

Bibel, Einheitsübersetzung, Herder-Verlag 1980
Duden, Deutsches Universalwörterbuch A-Z, 1989, 2.Auflage
Koran, Orbis-Verlag 1993
P.M. Perspektive, Ausgabe 97/048
Brenner, Charles, Grundzüge der Psychoanalyse, Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 1976
Freud, Anna, Zur Psychoanalyse der Kindheit, Fischer-Verlag
Freud, Sigmund, Abriß der Psychoanalyse / Das Unbehagen in der Kultur, Fischer-Verlag
Freud, Sigmund, Das Ich und das Es, Fischer-Verlag
Freud, Sigmund, Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung, G.W., Bd.8
Freud, Sigmund, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Wien 1910, G.W., Bd.8
Freud, Sigmund, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, G.W., Bd.15
Fromm, Erich, Die Kunst des Liebens, Ullstein-Verlag
Glasenapp, Helmuth von, Die fünf Weltreligionen, Eugen Diederichs Verlag, München 1963
Hardeck, Jürgen, Vernunft und Liebe - Religion im Werk von Erich Fromm, Ullstein-Verlag, 1992
Hörmann, Karl, Lexikon der christlichen Moral, Innsbruck-Wien-München 1976, Tyrolia-Verlag
Kolb, Ingrid, Das Kreuz mit der Liebe, Goldmann-Verlag 1980
Morris, Desmond, Das Tier Mensch, Heyne-Verlag, München 1994
Morris, Desmond, Der nackte Affe, Knaur-Verlag, München 1967
Osho, Beziehungsdrama oder Liebesabenteuer, 1995
Osho, Leben, Lieben, Lachen, 1996
Rombach, Heinrich (u.a.), Lexikon der Pädagogik, Herder-Verlag 1952, Bd.I
Tworuschka, Monika und Udo (Hrsg.), Religionen der Welt, Bertelsmann-Verlag 1992
Weitere Literatur bzw. Links mit (z.T.) themenbezogenem Inhalt:
Comfort, Alex, New Joy of Sex, Ullstein 1996
Davies, Nigel, Liebe, Lust und Leidenschaft, Rowohlt 1987
Deschner, Karlheinz, Das Kreuz mit der Kirche, Heyne 1973
Lehmann, Karl, Ehe als Lebensentscheidung, Brosch., Informationszentrum Berufe der Kirche 1996
Gambaroff, Marina, Utopie der Treue, Rowohlt 1984
Michael/Gagnon/Laumann/Kolata: Sexwende, Liebe in den 90ern, Knaur 1994
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