Sonntag, 31. Januar 2010

Gender mainstreaming - Gegenperspektive

Gender mainstreaming - nette Gegenperspektive - und Hintergründe

verfasst von moneymind E-Mail, 30.01.2010, 02:56
(editiert von moneymind, 30.01.2010, 03:22)

Hallo,

um mal so richtig ins Wespennest reinzustechen:

Eine erfrischend deftige Gegenperspektive, dann ein Versuch, ein paar tiefere Hintergründe auszuleuchten.

Die Gegenperspektive:

Crevelds provokante These lautet: Die Unterdrückung der Frau ist eine in die Irre führende Legende des Feminismus. Warum bezeichnet sich in den Vereinigten Staaten nur eine von drei Frauen als Feministin, während viele andere diesem Begriff extrem ablehnend gegenüberstehen? Warum haben von Florence Nightingale bis Simone de Beauvoir viele berühmte Frauen gesagt, daß sie nie unter den Benachteiligungen litten, die angeblich mit ihrem Geschlecht verbunden sind? Und weshalb ergeben Umfragen unter Frauen der verschiedensten Nationalitäten, daß die meisten von ihnen sich nicht diskriminiert fühlen?

Martin van Creveld hat mit seinem jüngsten Buch eine antifeministische Polemik verfaßt. Seine provokante These lautet: Frauen werden nicht unterdrückt und sind nie unterdrückt worden. Sie sind das eigentlich privilegierte Geschlecht und sind dies auch in der Vergangenheit immer gewesen.

Dazu führt Creveld zahlreiche Beispiele aus Geschichte und Gegenwart an. Als Kinder werden Frauen sanfter behandelt. Als Erwachsene stehen sie unter geringerem Druck, sich zu behaupten und ihren Verpflichtungen nachzukommen. Im Berufsalltag übernehmen sie weniger als die Hälfte der Arbeit. Und im Wirtschaftsleben sind sie oft in der beneidenswerten Situation, Geld ausgeben zu können, ohne es verdienen zu müssen.

Vor diesem Hintergrund ist es für Creveld plausibel, daß die meisten Frauen mit ihrem Los offenbar mehr und weniger zufrieden sind und daß nicht mehr Frauen ihre Kosmetika weggeworfen und ihre BHs verbrannt haben, um in die Blaumänner zu steigen und männliche Berufe auszuüben.

Die Botschaft am Ende seines Buches: Jede Medaille hat zwei Seiten. Wenn Frauen Männern auch nicht in jeder Hinsicht gleichkommen, so sind sie ihnen gegenüber doch in vielen anderen Dingen bevorzugt. Für jeden Nachteil, den sie erleiden müssen, gibt es ein Privileg, das sie allein genießen. Dafür sollten sie ein Bewußtsein entwickeln, um das Zusammenleben und das Verständnis zwischen den Geschlechtern zu erleichtern.
(M.v.Creveld: Das bevorzugte Geschlecht)


"Der Krieg als Domäne der männlichen Aggressivität einerseits, eine Welt in Frieden, wenn Frauen die ganze politische Macht besäßen, andererseits: Martin van Creveld legt energisch Widerspruch gegen dieses Dogma ein und entlarvt in diesem Buch eine der großen politischen Illusionen unserer Zeit. Eine Welt ohne Krieg? Wenn die politische Führung nur in den Händen von Frauen läge, die für Frieden sorgten? In diesem Werk klärt der international angesehene Kriegstheoretiker Martin van Creveld kritisch über diese These auf.
Trotz der vorhandenen weiblichen Aggressionsbereitschaft nahmen Frauen von der Antike bis zum Ende des 2. Weltkriegs zwar nur sehr vereinzelt und in Ausnahmesituationen direkt am Krieg teil. Dieser blieb die bei weitem wichtigste Domäne des Mannes. "Mann" und "Krieger" waren so eng miteinander verknüpft, dass die beiden Wörter in einigen Sprachen austauschbar sind. Dennoch haben Frauen für den Krieg von jeher eine große und entscheidende Bedeutung gehabt. Sie spielten ihren Part in der Mythologie ebenso wie in der wirklichen Geschichte: als Anstifterinnen von kriegerischen Auseinandersetzungen, als Kriegsursachen, als Gegenstand und Opfer von Kriegen. Die Frauen waren es, die Schutz und Verteidigung von ihren Männern einforderten, die ihnen zujubelten, wenn sie in den Kampf zogen, die für sie beteten, wenn sie im Feld waren, und die auf ihre Rückkehr warteten. Sie umarmten die Sieger und trösteten die Verlierer. Frauen dienten über Jahrhunderte als Vergrößerungsspiegel, ausgestattet mit der Magie und Kraft, die Gestalt der Männer in doppelter Größe zurückzustrahlen. Diese Spiegel waren bestimmend für alle kriegerischen und heroischen Handlungen.
Martin van Creveld hat mit "Frauen und Krieg" ein grundlegendes und zugleich provokatives Geschichtswerk vorgelegt. Der Eintritt von Frauen in die Streitkräfte der entwickelten Länder, so argumentiert der Autor, hat mit der weiblichen Emanzipationsbewegung nichts zu tun. Vielmehr ist die Präsenz von Frauen im Militär ein weiteres Zeichen dafür, dass die Bedeutung der großen staatlichen Armeen für die Kriegführung mehr und mehr verschwindet."
( Martin van Creveld: Frauen und Krieg. )

Wonach aber sowohl Gender Mainstreamer als auch der unkonventionelle Militärhistoriker van Creveld genausowenig fragen wie Feminismus-basher:

Wieso und wozu gibt es überhaupt die Frauenbewegung, was macht(e) sie eigentlich notwendig und so zwanghaft?

Interessante Thesen zu den Hintergründen der Frauenbewegung gibt es (seit 35 Jahren) hier:

G. Heinsohn/R. Knieper: Theorie des Familienrechts. Geschlechtsrollenaufhebung, Geburtenrückgang, Kindesvernachlässigung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974.

G. Heinsohn (1979): Frauen und Mütter im israelischen Kibbutz. Familien- und Bevölkerungstheorie einer hochentwickelten Kommunegesellschaft.

Heinsohn geht von der These aus, daß Lohnarbeiter mangels vererbbaren Produktionsmitteleigentums zur Existenzsicherung keinen Nachwuchs benötigen und deshalb - sobald ihnen Geburtenkontrolle zugänglich wird und ihre traditionelle religiös geprägte Einstellung schwindet, dazu tendieren, kinderlos zu bleiben

Heinsohn belegt anhand statistischer Daten, daß dies sowohl in modernen kapitalistischen wie auch sozialistischen Gesellschaften der Fall war.

Auf der Basis dieser ökonomisch fundierten Familientheorie, die natürlich der modernen Familienideologie völlig zuwiderläuft, von einem traditionellen Standpunkt aus aber wohl als "gesunder Menschenverstand" erscheint, erklärt Heinsohn die moderne Entwicklung von Feminismus, Geschlechtsrollenaufhebung, Geburtenrückgang etc. auf eine sehr differenzierte Weise. Ich kann hier die Vielfalt der Themen, die er so im Zusammenhang verständlich macht, nur streifen und den Bezug zum Gendermainstreaming herstellen:

Männer sind zunehmend nicht mehr auf eine Ehefrau angewiesen, weshalb Frauen sich nicht mehr darauf verlassen können, auf traditionelle Art einen Familienversorger zu finden und daher gezwungen sind, sich selbst ebenfalls für die Arbeitsmärkte fitzumachen. Dafür benötigen sie natürlich all die zivilen Rechte, die Männer schon haben, müssen also um ihre Anerkennung als freie und gleiche Rechtsperson kämpfen, um ihre wirtschaftliche Überlebensfähigkeit herstellen und aufrechterhalten zu können. Dieser Zwang führt zur Gründung der Frauenbewegung und zur Ideologie des Feminismus, die dann natürlich auch sozialistische "Gleichheits"-Interpretationen ideologisch für sich nutzt.

Kämpfen müssen die Feministinnen dabei gegen konservative und religiöse Indoktrination, die trotz mangelnder ökonomischer Angewiesenheit weiter Fortpflanzungs- und Familienmoral propagieren, der aber ihre ökonomische Basis (vererbbares Produktionsmitteleigentum) fehlt. Sie wird so zur leeren, immer unglaubwürdigeren Hülle und zur bloßen Machtideologie, die jedoch weiterhin Einfluß auf das Reproduktionsverhalten der Lohnarbeiter hat. Nicht nur in den USA kennt man das. Auch Marxisten hielten - wie Heinsohn in "Menschenproduktion - allgemeine Bevölkerungstheorie der Neuzeit" zeigt, die Lohnarbeiter zu fleißiger Reproduktion an, da sie sich ja Nachwuchs für eine machtvolle "proletarische Revolution" wünschten.

Anhand der Kibbutzim, einer modernen Kommune und "kollektivistischen Stammesgesellschaft", in der die Frauen sich von selbst aufs Kinderkriegen und das Zuhause verlegen zurückziehen, obwohl die kollektivistische Kibbutzideologie das Gegenteil von ihnen verlangt, und auf Feminismus pfeifen, belegt er den Zusammenhang von Feminismus und Lohnarbeit (Kurzzusammenfassung hier).

Doch nicht nur Feminismus ist ein Produkt der Lohnarbeit. Auch staatliches Bildungs- und Erziehungssystem und die staatliche Sozial- und Rentenversicherung übertragen Funktionen an den Staat, die früher die Familie übernommen hatte, die die Lohnarbeiterfamilie aber mangels Produktionsmitteleigentums nicht mehr ausüben konnte.

Woher also kommt die Lohnarbeiterklasse - DAS zentrale Unterscheidungsmerkmal des modernen Kapitalismus im Vergleich zu antiken?

Heinsohn/Steiger/Kniepers These dazu: sie stammt aus dem bevölkerungspolitischen Versuch der frühmodernen Staaten, nach der "kleinen Eiszeit" ab ca. 1300 und den Pestwellen ab 1348 entvölkerte Landstriche "wiederzubevölkern", indem Geburtenkontrolle systematisch verfolgt wurde.

Diese Bevölkerungspolitik ("Menschenproduktion") wurde im Merkantilismus fortgesetzt. Hier liegen auch die historischen Wurzeln der "Bevölkerungswissenschaft" (heute "Demographie" genannt), die als Teil der modernen "Disziplinen" (wie sie Foucault in "Überwachen und Strafen" fürs Gefängnis und in "Die Geburt der Klinik" für die moderne Medizin untersucht hat), und der "Humanwissenschaften" (Medizin, Psychologie, Psychiatrie, Erziehungswissenschaft), die ursprünglich alle im Dienst dieser "staatlichen Menschenproduktion" standen.

Heinsohn sieht also keine "Verschwörung" am Werk, wie Zentralsteuerungsfreaks gerne glauben, sondern sieht Naturkatastrophen als Auslöser für gesellschaftliche Umwälzungen, die dann aber auch eine Eigendynamik entfalten.

Ausführlich dargestellt und belegt haben Heinsohn, Knieper und Steiger diese These in Heinsohn/Knieper/Steiger: Menschenproduktion. Allgemeine Bevölkerungstheorie der Neuzeit. (Zusammenfassung), und weiterentwickelt wird sie in Heinsohn/Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen (dort Möglichkeit, Inhaltsverzeichnis und Vorwort zu lesen).

Würde diese Texte gern diskutieren, wer hat sie gelesen?

---
"Einem Club, der Leute wie mich aufnimmt, möchte ich lieber nicht angehören" (Marx ... Groucho, nicht Karl)

Menschenproduktion

Gunnar Heinsohn / Rolf Knieper / Otto Steiger:

Menschenproduktion

Allgemeine Bevölkerungstheorie der Neuzeit

edition suhrkamp, Erstausgabe 1979, 2. unveränderte Auflage 1986
(ISBN: 3-518-10914-6)

(II)

Alle drei Autoren sind Professoren (G. Heinsohn, geb. 1943: Soziologie, R. Knieper, geb. 1941: Jura, O. Steiger, geb. 1938: Ökonomie) an der Universität Bremen und lehren dort seit 1973. Heinsohn und Steiger wurden insbesondere bekannt durch ihre Bücher Die Vernichtung der weisen Frauen (1985) – siehe unter (IV) – und Eigentum, Zins und Geld (1996) – siehe Besprechung auf SeiteXXXX....

(III)

Kern ihrer Untersuchungen und Überlegungen ist die Überzeugung, dass der Wunsch nach Kindern in erster Linie ökonomisch bedingt ist und abhängig von der Vermögens- bzw. Eigentumssituation der potentiellen Eltern: Nur wer etwas hat, kann auch etwas weitergeben und also ein Motiv entwickeln, Erben in die Welt zu setzen. Diese sind – eben weil sie Erben sind bzw. Aussicht auf Erbschaft haben – wiederum ökonomisch motiviert, die Alterssicherung und -versorgung der Eltern zu gewährleisten, wodurch wiederum das Motiv der Eltern, Nachkommen zu generieren, abgesichert und bestärkt wird. Die Verfasser wenden sich entschieden gegen die (konventionelle) Vorstellung eines „natürlichen Kinderwunsches“. Typischerweise zu Nachkommenschaft motivierte Individuen sind insofern die eigenständigen und selbstverantwortlichen Produzenten, die über persönliches (oder auch genossenschaftliches wie im Kibbuz) Eigentum verfügen und dabei darauf achten, nicht mehr Kinder in die Welt zu setzten als zur vollen Reproduktion notwendig sind, also 2-3 pro gebärfähiger Frau. In der historischen Betrachtung sind dies also die klassischen Bauern, insbesondere auch die Leibeigenen des Mittelalters, denen natürlich auch an einer Mithilfe im Familienbetrieb gelegen ist. Typischerweise nicht motiviert sind hingegen die Sklaven und eigentumslosen „Proletarier“ der Antike sowie die Lohnarbeiter der Neuzeit.

Die Argumentationslinie beginnt im Altertum: Bereits die Griechen, mehr aber noch die Römer sind Eroberer und Unterwerfer und benötigen zu eben diesem Zweck mehr junge Männer, als zur Fortführung der jeweils individuellen Bauernwirtschaft erforderlich sind. Die nichterbenden Söhne müssen – auf Gedeih und Verderb – eigenes Land gewinnen und erklären damit umgekehrt den expansionistischen Drang dieser Kulturen. In den eroberten Gebieten wird die Bevölkerung versklavt und auf großflächigen Latifundien (im Eigentum römischer Bürger) eingesetzt. Aber die Sklavenwirtschaften produzieren konkurrenzlos billig und zerstören dadurch die traditionellen Betriebe, mithin dort also auch die Motivation für Nachwuchs und entsprechend die Menschen- und Sklavenquelle. Letztere versiegt, weil Sklavenzuchtversuche – anders als im neuzeitlichen Amerika – scheitern. Im Ergebnis sinkt die Bevölkerung vom Beginn der Kaiserzeit bis zum 3. Jahrhundert nC um 50%. Durch die Ungleichverteilung und den Menschenmangel wird die ökonomische Kraft und schließlich auch die militärische Macht immer mehr geschwächt und das Reich zerfällt. Gleichzeitig wird aber der Gott der Christen immer attraktiver für die, deren Leben am wenigsten gilt: Sklaven, Frauen und Kinder. Antitötungsmoral, Fortpflanzungsgebot und christliche Ethik gehen eine Verbindung ein mit dem Interesse der Kaiser an einer Wiederbevölkerung des Reiches: Das Christentum wird Staatsreligion.

Mit dem Jahre 1302 kommt es zu gewaltigen klimatischen Verschlechterungen („kleine Eiszeit“) und in der Folge 1348 zum Ausbruch der Pest. Zwischen 1300 und 1400 sinkt die europäische Gesamtbevölkerung von 73 auf 45 Mio. Menschen, aber zwischen 1450 und 1700 steigt sie wieder von 50 auf 115 Mio. Der Anstieg kann nicht mit einer expansiven, dynamischen, familienorientierten Bauerngesellschaft erklärt werden, da die überwiegende Mehrheit der Landbevölkerung aus Leibeigenen besteht, die bestenfalls zur vollen Reproduktion motiviert sind, und – zunehmend – Lohnarbeitern, denen ein solches Interesse fremd ist. Die Autoren vertreten nun die These, dass die dennoch zu konstatierende gewaltige Bevölkerungsentwicklung ein direktes Ergebnis der nunmehr einsetzenden Bestrafung und Verfolgung von Verhütung, Abtreibung und heimlicher Kindestötung ist, die sich in einem dramatischen Anstieg der Geburten weit über die volle Reproduktion niederschlagen. Maßnahmen zur Überwindung des Menschenmangels und zur Abwendung eines Schicksals wie das des römischen Reiches erfolgen seitens des Staates wie der Kirche. Dazu gehört insbesondere die gewaltsame Verdrängung und Verbannung des Jahrtausende alten Wissens um Verhütung und Geburtenkontrolle, die ihren augenscheinlichsten Ausdruck in bestialischer Folter und millionenfachem Mord an Frauen findet: in der Hexenverbrennung. Speziell dieser Thematik haben Heinsohn und Steiger 6 Jahre später ihr Buch Die Vernichtung der weisen Frauen gewidmet (s.u.), in dem sie allerdings die Zahl der Tötungen auf 200.000 korrigieren. Dass es sich dabei keineswegs um einen irrationalen Einbruch des Mittelalters, sondern um konsequent rationales Vorgehen handelt, wird am Beispiel des französischen Staatsdenkers, Begründers der Quantitätstheorie und Schöpfers des modernen Souveränitätsbegriffes, Jean Bodin, deutlich gemacht, der 1580 die entschiedenste und brutalste Schrift zur Hexenverfolgung veröffentlicht: De la démonomanie des sorciers. Er ist mit diesem Werk gleichzeitig der Wegbereiter des neuzeitlichen Staates, dessen Besonderheit darin liegt, über seine "Polizey" für die Erhaltung und Vermehrung der Bürger, Menschenproduktion also, zu sorgen.

Es ist nun die dabei verordnete Unwissenheit in sexuellen Dingen, vor allem die Verhütungsunfähigkeit aller Bürger, die zusammen mit der Zulassung der bislang daran gehinderten (weil eigentumslosen) sozialen Schichten zur Eheschließung – der einzigen Form legaler Sexualbetätigung – zur endgültigen Bevölkerungsexplosion im 18. und besonders im 19. Jahrhundert führt. Ersteres sorgt für eine relative Zunahme der Geburten pro Ehe, letzteres für eine absolute Zunahme der (kinderreichen) Ehen. Ohne diese Entwicklung, den daraus resultierenden Expansionismus und die Auswanderungswellen ist die übermächtige Stellung Europas in der Welt nicht zu erklären. Aber der dadurch immer größer werdende Anteil der Proletarier an der Gesamtbevölkerung und deren immer defizitärere Sozialisation werden von den Oberschichten schließlich als Existenzbedrohung – persönlich wie des Systems – empfunden und der Widerstand gegen Geburtenkontrolle immer weiter aufgegeben. Die letzte Bestätigung für die ökonomische Bedingtheit des Kinderwunsches ist schließlich die aktuelle Situation moderner Industriegesellschaften, in denen die Altersversorgung entindividualisiert, das Zusammenleben der Generationen entkoppelt und die Bevölkerungszahlen rückläufig sind. Eine ausführliche Diskussion und Kritik (unter der Prämisse der These der Autoren) der Bevölkerungstheorien ökonomischer Klassiker und moderner Ideen sowie eine (mathematisch) formalisierte Betrachtung runden die revolutionären Gedanken ab.

(IV)

Die These der drei Autoren über die aus ökonomischen Motiven erzwungene Menschenproduktion wurde von Heinsohn und Steiger 1985 in Die Vernichtung der weisen Frauen weiterentwickelt. Hier zeigten sie, dass der Kern der These sich als die Lösung dreier miteinander verwobener historischer Rätsel im Europa des späten 15. Jahrhunderts entziffern lässt: 1. die Transformation der Bevölkerungskatastrophe des 14. Jahrhunderts in die Bevölkerungsexplosion, 2. die Große Hexenverfolgung und 3. das plötzliche Verschwinden der Geburtenkontrolle. Im Anschluss an diese Veröffentlichung kam es zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen mit Feminismus, professioneller Hexenforschung, Rechtsgeschichte und Sexualwissenschaft. Sie sind in der 3. erweiterten Ausgabe dieses Buches ausführlich dokumentiert (s.u.).

(V)

1. G. Heinsohn / O. Steiger: Jean Bodin, das "Universalgenie der Neuzeit" oder: der wahre Meisterdenker – Neun bevölkerungstheoretische Thesen, in: European Demographic Information Bulletin 10:3 (1979)

2. G. Heinsohn / O. Steiger: The Economic Theory of Fertility. An Alternative Approach for an Economic Determination of Procreation, in: Metroeconomica 31:3 (1979, gedruckt 1981)

3. G. Heinsohn / O. Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen. Beiträge zur Theorie und Geschichte von Bevölkerung und Kindheit, Herbstein 1985, 3. erweiterte Ausgabe München 1989

4. G. Heinsohn / O. Steiger: Inflation and Witchcraft or The Birth of Political Economy: The Case of Jean Bodin Reconsidered, IKSF-Discussion-Paper No. 8, Jan./Sept. 1997, Univ. Bremen

5. G. Heinsohn / O. Steiger: Birth Control. The Political-Economic Rationale behind Bodin’s Démonomanie in: History of Political Economy 31:3 (1999)

Stunde der Liebe

FAMILIE

Stunde der Liebe

Israels Kibbuz-Frauen wollen nicht emanzipiert sein. Sie zeigen sich wenig interessiert an beruflichem Aufstieg, sind putzsuchtig und wünschen sich viele Kinder.

Frühmorgens klopft der Nachtwächter mit einem "boker tov" (Guten Morgen) an viele Türen. Bald darauf fahren die Männer hinaus aufs Feld und in die Fabriken. Die Frauen finden sich im Kinderhaus cm, stillen und füttern ihre Kleinsten. Um acht Uhr treffen sich alle zum großen Frühstück im Speisesaal.

So beginnt, üblicherweise, der Tageslauf für etwa 110 000 Israelis in rund 250 Kibbuzim. Doch der Höhepunkt in diesem Alltag kommt für die Mütter irgendwann nach neun Uhr.

Dann schlägt die "scheat haahava", die "Liebesstunde", in der sie ihre Kinder aus den Kinderhäusern zu sich holen, mit ihnen spielen oder spazierengehen.

Es ist eine erkämpfte halbe Stunde, denn Kindererziehung ist im Kibbuz eigentlich Sache der Gemeinden. Auf eigene Faust haben die Frauen, etwa von 1964 an, begonnen, ihre Kinder zu sich zu nehmen, wenn Schichtdienst oder Urlaub es zuließen.

Bald ließen sich viele Mütter -- 88 Prozent aller Kibbuz-Frauen sind erwerbstätig -- ihre Arbeitszeit so einteilen, daß sie sich ihre Sehnsucht nach den Kindern jeden Vormittag erfüllen konnten. Dann gab es in den Kinderhäusern Reibungen, weil nicht alle Mütter kamen. Also legitimierte das Erziehungskomitee die Vormittagspause, gab ihr den Namen "scheat haahava" und erhob sie zur Pflicht.

Ganz ähnlich entwickelt sich -- treibende Kraft: die Frauen -- die Familie überall in den Kibbuzim aus ihrem anfänglichen Schattendasein wieder zu der wichtigen "Primärgruppe", als die sie Wissenschaftlern in aller Welt schon immer galt.

"In jedem zehnten Kibbuz", konstatiert der Bremer Sozialpädagoge Gunnar Heinsohn, der seit 1976 die Familienentwicklung in den Kibbuzim beobachtet, haben es die Frauen "bereits durchgesetzt", daß ihre Kinder nicht mehr in den Kinderhäusern schlafen, sondern zu Hause.

Heinsohn sammelte Beweise für den neu erstandenen Familiensinn der Jüdinnen, vorgelegt in einem demnächst bei Suhrkamp erscheinenden Aufsatz "Frauen und Mütter im israelischen Kibbuz". Besonders auffällig fand der Bremer Wissenschaftler die "frappierende Kinderproduktion" bei der zweiten und dritten Kibbuz-Generation.

Auch das amerikanisch-israelische Autoren-Team Lionel Tiger und Joseph Shepher fand die Einstellung der Frauen "zur Familie weit positiver als die der Männer"*.

Dies überrascht, weil im Kibbuz von Anfang an geschlechtsneutral erzogen wurde und Mädchen immer jene Chancengleichheit hatten, um die sie in den Industrienationen noch kämpfen.

Vollendete Gleichberechtigung aller war das Ziel, als jüdische Männer und

* Lionel Tiger, Joseph Shepher: "Women in the Kibbutz". Penguin Books Ltd., Middlesex, England; 352 Seiten: 1.95 Pfund.

Frauen in den zwanziger Jahren aus der Diaspora in Palästina zusammenkamen und die ersten -- zunächst rein agrarisch arbeitenden -- "Kevuzot" (Gruppen) und "Kibbuzim" (Genossenschaftssiedlungen) gründeten. Die Familie sollte ins Kollektiv überführt, die Fron des Kochens, Putzens und Kinderhütens von den Frauen genommen werden.

Beide Geschlechter arbeiteten in der Produktion und aßen in Gemeinschaftsräumen das in Großküchen Bereitete. Alle erhielten gleich hohes Taschengeld. Ausgebildete Erzieherinnen betreuten rund um die Uhr die Kinder. Eltern und Kinder sahen einander nur in den Mußestunden nach der Arbeit und an Feiertagen. Allein für den Sex gab es noch Privaträume, später Appartements.

Küche und Kinderhaus blieben zwar Domäne der Frauen -- was einigen Theoretikern heute als Erklärung für deren Rückzug von der Emanzipation gilt -, doch war hausfrauliches Verhalten verpönt. Als die Pionierin und spätere israelische Premierministerin Golda Meir es nicht lassen konnte, an Freitagabenden den Tisch des Kibbuz mit weißen Tüchern und "einer Vase mit Wildblumen" zu zieren, wurde sie ""bürgerlicher" Schwäche" geziehen, ebenso wenn sie ihre Blusen bügelte.

Doch Golda ließ sich Blusen und Blumen -- wie sie später in ihren Erinnerungen ("Mein Leben für mein Land") mitteilte -- nicht nehmen: "Ich bestand darauf." Und mit der Zeit entwickelten mehr und mehr Kibbuz-Mädchen solche weiblichen Züge: 96 Prozent stimmten schon Mitte der sechziger Jahre für die Einrichtung von Schönheitssalons. Später setzten sie durch, daß ihnen ein höherer Kleider-Etat zugestanden wurde als den Männern -- und durchbrachen damit, wie Gunnar Heinsohn meint, das ansonsten "wirklich geheiligte Prinzip absolut gleicher Konsumtionsmittel" für alle.

Frauen auch nutzten die Nachmittagsstunden zu gemütlichen Familientreffs mit Kaffee und Kuchen. Auch die schon erwachsenen Kinder kommen mitunter dazu -- ins immer aufwendiger gestaltete Familienheim. Teppichboden und Gardinen erfordern Pflege, der Ehemann beteiligt sich am Hausputz.

"Fünf oder sechs Sprößlinge", berichtet Heinsohn, seien in den wiederauferstandenen Familien "keineswegs die sensationelle Ausnahme". So werde das Wiederaufleben einst überwunden geglaubter Geschl echterrollen unumgänglich -- so wenig das den Kibbuzgründern und den Ideologinnen der Frauenbewegung ins Konzept passen mag.

Auch eine Rückkehr zur Arbeitsteilung nach Geschlechtern fanden Tiger und Shepher, die fast zwei Drittel der erwachsenen israelischen Kibbuz-Bevölkerung befragt und beobachtet haben: Acht von zehn der jüngeren Frauen arbeiten in typisch weiblichen Dienstleistungsberufen wie Krankenschwester, Sekretärin, Lehrerin. Frauen sind weniger aktiv bei öffentlichen Versammlungen: "Je höher die Machtbefugnisse eines Amtes oder Gremiums, desto geringer der Frauenanteil"; und trotz gleicher Schulbildung "fallen Mädchen von der neunten Klasse an in ihren Leistungen hinter die der Jungen zurück" (Tiger/Shepher).

Die Frauen verlegen sich aufs Kinderkriegen: 52 Prozent der verheirateten Frauen haben drei und mehr, 75 Prozent der im Kibbuz geborenen Frauen wünschen sich vier oder mehr Kinder. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Ehe ist mit 2.8 doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik, Eheschließungs- und Geburtenraten sind dreimal so hoch und liegen seit einiger Zeit auch deutlich über denen der israelischen Gesamtbevölkerung. Die Scheidungsrate bei Kibbuz-Ehen sinkt.

"Warum", fragen die Autoren, "haben die Frauen im Kibbuz so viele Kinder?" Die Anthropologen Tiger und Shepher erklären das weibliche Verhalten "biogrammatisch", mit einer Art Säugetierinstinkt der Menschenfrau.

Heinsohn kritisiert diese Auffassung als "biologisches Vorurteil" und sucht die Antwort in der Sexualität. Kibbuz-Mädchen, spekuliert der Bremer Wissenschaftler, sehen in einer "immer längeren Reihe von Kindern", die sie "zwischen sich und den Mann" stellen, eine Möglichkeit, ihre "überlegene", da "nicht aberzogene sexuelle Potenz" in kibbuzgerechter Weise zu sublimieren.



DER SPIEGEL 11/1978
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG.

Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen diesen Artikel jedoch gerne verlinken.
Unter http://corporate.spiegel.de finden Sie Angebote für die Nutzung von SPIEGEL-Content zur Informationsversorgung von Firmen, Organisationen, Bibliotheken und Journalisten.
Unter http://www.spiegelgruppe-nachdrucke.de können Sie einzelne Artikel für Nachdruck bzw. digitale Publikation lizensieren.